Mit Kindern über das Coronavirus sprechen

  1. Schaffen Sie eine offene und unterstützende Atmosphäre, in der Kinder wissen, dass sie Fragen stellen dürfen. Die Kinder sollten jedoch nicht gezwungen werden, darüber zu sprechen, solange sie nicht dazu bereit sind.
  2. Beantworten Sie Fragen aufrichtig. Normalerweise erkennen Kinder oder finden es irgendwann heraus, wenn Sie „Dinge erfinden“. Dies kann ihre Fähigkeit beeinträchtigen, in der Zukunft Ihnen oder Ihren Zusicherungen noch zu vertrauen.
  3. Verwenden Sie Wörter und Konzepte, die Kinder verstehen können. Stimmen Sie Ihre Erklärungen auf Alter, Sprache und Entwicklungsstand des Kindes ab.
  4. Helfen Sie Kindern, genaue und aktuelle Informationen zu finden. Drucken Sie ggf. geeignete Texte und Abbildungen des RKI und der WHO aus.
  5. Seien Sie bereit, Informationen und Erklärungen mehrmals zu wiederholen. Manche Information mag schwer zu akzeptieren oder zu verstehen sein. Wenn das Kind die gleiche Frage immer und immer wieder stellt, kann dies eine Möglichkeit für das Kind sein, um Bestätigung und/oder Beruhigung zu bitten.
  6. Erkennen Sie die Gedanken, Gefühle und Reaktionen des Kindes an und bestätigen Sie sie. Vermitteln Sie dem Kind, dass seine Fragen und Bedenken wichtig und angemessen sind.
  7. Denken Sie daran, dass Kinder dazu neigen, Situationen zu personalisieren. Zum Beispiel können sie sich Sorgen machen über ihre eigene Sicherheit und die Sicherheit der unmittelbaren Familienmitglieder oder um Freunde und Verwandte, die reisen oder weit weg wohnen.
  8. Beruhigen Sie, aber machen Sie keine unrealistischen Versprechungen. Es ist in Ordnung, Kinder darüber zu informieren, dass sie sicher sind in ihrem Haus.. Aber Sie sollten nicht versprechen, dass es keine Coronavirusinfektion in Ihrem Ort geben wird.
  9. Lassen Sie die Kinder wissen, dass es viele Menschen gibt, die den vom Coronavirus-Ausbruch Betroffenen helfen. Dies ist eine gute Gelegenheit, Kindern zu zeigen, dass es Menschen gibt, die helfen, wenn etwas Beängstigendes oder Schlimmes passiert.
  10. Kinder lernen vom Beobachten ihrer Eltern und Lehrer. Sie werden sehr interessiert daran sein, wie Sie auf Nachrichten zum Coronavirus reagieren. Sie lernen auch, wenn sie Ihren Gesprächen mit anderen Erwachsenen lauschen.
  11. Lassen Sie Ihre Kinder nicht zu viele erschreckende Bilder im Fernsehen schauen. Die Wiederholung solcher Szenen kann beunruhigen und verwirrend sein.
  12. Kinder, die in der Vergangenheit schwere Krankheiten oder Verluste erlitten haben, sind besonders verwundbar durch längere oder intensive Reaktionen auf Bilder von Krankheit und Tod. Diese Kinder benötigen möglicherweise zusätzliche Unterstützung und Aufmerksamkeit.
  13. Kinder, die sich übermäßig mit Fragen oder Sorgen bezüglich Coronavirus beschäftigen, sollten von einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie oder einem Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten untersucht werden. Andere Anzeichen dafür, dass ein Kind fachliche Hilfe benötigt, sind: länger anhaltende Schlafstörungen, sich aufdrängende Gedanken oder Sorgen, wiederkehrende Ängste vor Krankheit oder Tod, oder Widerwillen, sich von den Eltern zu trennen oder (irgendwann mal wieder) zur Schule zu gehen.
  14. Auch wenn Eltern und Lehrer die Nachrichten und die täglichen Aktualisierungen mit Interesse und Aufmerksamkeit verfolgen mögen, wollen die meisten Kinder einfach nur Kinder sein. Sie wollen vielleicht nicht darüber nachdenken, was im ganzen Land oder anderswo auf der Welt passiert. Sie würden lieber Ball spielen, auf Bäume klettern oder Fahrrad fahren. Sofern dies möglich ist, lassen Sie es zu und regen Sie es an.

Sehr anschaulich ist auch „Wie erkläre ich meinen Kindern, was das Coronavirus ist? Ein Leitfaden für Eltern und alle anderen, die den Kindern die Angst nehmen und sie aufklären wollen“ von Detlef Hacke auf Spiegel.de.

Text übersetzt nach AACAP „Talking to Children about Coronavirus„, von Dr. Ingo Spitczok von Brisinski, veröffentlicht in „Forum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie“, Heft 1/2020.

Trennungsangst

Trennungsangst ist eine starke und inhaltlich unbegründete Angst von Kindern, sich von ihren engeren Bezugspersonen zu trennen. Häufig tritt sie zu Beginn der Kindergartenzeit (in der „Bringesituation“) auf und vergeht dann oft nach wenigen Wochen. In einigen Fällen bleibt sie aber über längere Zeit bestehen, kann auch in der Schulzeit noch auftreten und sich oft auch auf andere Tagessituationen beziehen.

Symptomatik

Die betroffenen Kinder möchten morgens nicht zur Schule gehen, geben meist aber nicht ihre Angst als Begründung an, sondern entwickeln psychosomatische Beschwerden (Kopfschmerz, Übelkeit, Bauchschmerz), die es Eltern ermöglichen, sie entweder gleich wegen Krankheit in der Schule zu entschuldigen, oder im Vormittagsverlauf abzuholen. Am Nachmittag kann (darf) die Mutter häufig nicht einkaufen gehen, wenn das Kind zu Hause ist, bei stärkerer Ausprägung nicht einmal in den Keller des Hauses. Die Kinder reagieren mit Unmutsäußerungen, Weinen, Schreien. Freunde werden stets nur nach Hause geholt, aber nicht besucht; übernachten kann das Kind auch nicht woanders. Geregelte Übernachtungen wie Schullandheimaufenthalte sorgen schon weit im Vorfeld für große Besorgnis.

Eine spezielle Ausprägung hat die Trennungsangst bei der „abendlichen Trennung“, dem Einschlafen. Eltern betroffener Kinder „müssen“ ihre Kinder über einen langgestreckten Zeitraum ins Bett bringen, bei ihnen im Bett liegen bis sie eingeschlafen sind oder zumindest in Sicht- oder Rufweite sein. Viele Kinder „wandern“ nachts dann rüber ins Elternbett. Oder die Kinder gehen gleich von vornherein im Elternbett schlafen und verbringen dort die gesamte Nacht, was viele Väter sogar dazu bewegt, ihrerseits ins Kinderzimmer „umzuziehen“. Auch hier münden Versuche der Eltern, das Problem jetzt endlich mal aus der Welt zu schaffen, mit Verweigerung, Weinen, Schreien des Kindes – es können sich regelrechte nächtliche Dramen abspielen, die die Eltern meist dazu bewegen, ihren Versuch aufzugeben und dem Kind seinen Willen zu lassen.

Eine andere Ausprägung der Trennungsangst ist die „Schulvermeidung„, bei der das Kind in schweren Fällen sogar über Wochen oder Monate die Schule überhaupt nicht mehr besucht. Vordergründig sind es Bauchweh oder Übelkeit, manchmal auch Leistungsprobleme oder „Mobbing“, häufig steckt dahinter aber vor allem die Angst des Kindes, von seinen Eltern getrennt zu sein.

Für das betroffene Kind bedeutet die Trennung von den Eltern ein Gefühl der Verunsicherung, das häufig so weit geht, dass das Kind befürchtet, der Mutter (dem Vater) könnte während der Zeit des Getrenntseins etwas zustoßen. Manche Kinder bestätigen im Gespräch, dass sie Angst haben, ihre Mutter könnte sterben, während die in der Schule sind.

Ursachen

Der Grund dafür, dass Eltern diese oft nervenaufreibenden Szenen mitmachen, ist, dass sie die Angst ihres Kindes spüren und sehen und ihm gerne helfen wollen. Wenn die vermeintliche Hilfe aber darin besteht, nachzugeben, ist es keine Hilfe, sondern es fördert das Verhalten des Kindes, indem das Kind darin bestätigt wird, dass es richtig und hilfreich war, sich so zu verhalten.

Lösungsmöglichkeiten

Die Lösung des Problems beginnt immer zuerst mit der Einsicht der Eltern, dass ihr Kind in diesen Fällen keine „reale Angst“ vor einer tatsächlichen Bedrohung hat, sondern ein „gelerntes Fehlverhalten“ entwickelt hat. Angst ist ein uraltes menschliches Gefühl, das uns ursprünglich helfen soll, Bedrohungen zu erkennen und zu vermeiden, um zu überleben. In den beschriebenen Situationen besteht aber keine Bedrohung, sondern die Kinder sind in ihrem Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit auf einer frühen Entwicklungsstufe (etwa auf dem Stand von 2-3jährigen Kindern) stehengeblieben. Wenn Eltern irrigerweise annehmen, das Kind „braucht das eben noch“ und „wird schon sagen, wenn es das nicht mehr möchte“, sorgen sie unter Umständen für eine jahrelange Fixierung, die einer Behinderung gleichkommt, weil Eltern z.B. 12 Jahre lang das Haus nicht mehr zu zweit verlassen können, kein Eheleben mehr stattfindet und das Kind zum einen die „Tyrannenposition“ in der Familie innehat, zum anderen auch ein sehr reduziertes eigenes soziales Leben.

Wenn Eltern verstanden haben, dass es ihre Verantwortung ist, ihrem Kind beizubringen, diese Angst nicht mehr zu haben, indem sie die Notwendigkeit schaffen, sich den Herausforderungen zu stellen, ist schon die Hälfte der Strecke geschafft. Beide Eltern müssen sich genau absprechen, sich bei Zweifeln gegenseitig ermutigen und eine gemeinsame klare Linie verfolgen, die z.B. heisst: „Ab heute schläfst du in deinem eigenen Bett und bleibst die ganze Nacht darin“ oder „Du gehst alleine zur Schule und bleibst bis Unterrichtsende dort“. Wichtig ist, dass Eltern ihrem Kind positiv vermitteln: „Ich traue dir zu, dass du das schaffst“, und dann gemeinsam auch einen Belohnungsplan entwickeln, in dem das Kind für das erfolgreiche und „mutige“ Erfüllen der Aufgabe Lachgesichter, Aufkleber, Stempel etc. sammelt, die es dann nach einer festgelegten Anzahl in Belohnungen umtauschen kann. Diese Belohnungen sollten am besten soziale Aktivitäten sein, damit die Botschaft für das Kind lautet „Wenn ich mutig bin und meine eigenen Angelegenheiten verantwortungsvoll in der Hand habe, habe ich mehr Freiheit, mehr Spaß, und wir haben wieder eine schöne Zeit miteinander“. Genauso wichtig ist aber auch, dass die Eltern bei Widerstand des Kindes keinesfalls von ihrer Linie abweichen. Ohne im eigenen Bett zu bleiben, gibt es eben keine Punkte, aber zurückgebracht wird das Kind auf jeden Fall, und wenn „das Theater“ die ganze Nacht gehen sollte.

Wichtig ist natürlich auch, nicht nur durch Konsequenz und klare Linie das Problem zu verändern, weil Angst größer wird wenn man sie meidet und kleiner wird, wenn man sich ihr stellt, sondern auch zu verstehen, dass das Kind eine Hilfe bei der Entwicklung „mutigen Verhaltens“ hat. Die Eltern müssen als vertrauensvolle Personen bereit stehen, die Zeit der gemeinsam verbrachten Zeit sollte aber möglichst wenig in diesen schwierigen Momenten stattfinden, sondern gerade eben in „guten Momenten“, tagsüber, wenn man geregelt zu Hause ist und Zeit füreinander hat. Genau dies ist ja auch Sinn des beschriebenen Belohnungsprogramms: statt pathologisch verbrachte Zeit mit Angst und Streit lieber gut verbrachte Zeit mit Lachen und Spielen. Ebenso können Eltern ihrem Kind helfen, in anderen Lebensbereichen Kompetenzen zu erwerben: ob es das Brötchenholen beim Bäcker ist, das Anrufen bei Fremden oder das Übernachten bei Freunden, muss individuell herausgefunden werden.

Wenn die Lösung noch nicht in Sicht ist: Professionelle Behandlung

In manchen Fällen benötigen Familien zur Bewältigung die Hilfe eines Kinder- und Jugendpsychiaters. Bei einem ersten Gespräch in der Praxis wird genau erarbeitet, wann und warum das Problem entsteht und was es aufrecht erhält. Es wird auch versucht, eventuelle andere Ursachen (z.B. Spannungen im Familiengefüge, körperliche Krankheiten, oder schulische Überforderung) zu erkennen und einzuschätzen. Dann erarbeitet man gemeinsam einen Behandlungsplan, der auf den genannten Prinzipien beruht und gestaffelt nach Schwierigkeitsgrad oder auch nach Wichtigkeit die Probleme der Reihe nach angeht.

Manchmal ist auch das nicht ausreichend. Wenn eine Jugendliche seit mehreren Monaten die Schule nicht mehr besucht und im Gespräch keinen klaren Wunsch nach Veränderung äußert, oder wenn betroffene Kinder, Jugendliche und Familien zwar ambulant gut arbeiten, es aber sehr häufig zu Abweichungen von den gefassten Plänen und damit zum Scheitern kommt, muss das Betroffene Kind / der betroffene Jugendliche in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie stationär behandelt werden. Diese Behandlung wird von Fachleuten durchgeführt und ist meist sehr effektiv – allerdings dauert sie eine gewissen Zeit; stationäre Therapien sind selten unter mindestens 2-3 Monaten hilfreich, oft ist es noch länger.

Selbstverletzendes Verhalten

Viele Jugendliche leiden unter einer mangelnden Zukunftsperspektive. Andere kommen mit Fragen an das Leben, finden aber keine zufriedenstellenden Antworten. Aus verschiedenen Gründen, z.B. mangelhaft gelernte Regulation der Emotionen, unsichere Persönlichkeiten aufgrund unsicherer Bindungen zu den Eltern und auch biologischen Voraussetzungen wie Reaktionsbereitschaft auf Stress haben viele Jugendliche, vor allem Mädchen, erhebliche Probleme, einander widersprechende Gefühlsregungen gleichzeitig zu erleben. Wenn es vorher schlimm war, kann es jetzt nicht schön sein. Was vorher schön war, ist jetzt ausgelöscht, wenn es jetzt schlimm ist. Die Jugendlichen leiden an dem teilweise völligen Fehlen eines Handlungskatalogs, es sind keine Optionen vorhanden, sie haben keine Vokabeln, um in Worten zu beschreiben, wie sie sich fühlen, sie haben ohnehin oft niemanden, dem sie diese Worte mitteilen könnten, weil niemand diese Widersprüchlichkeit versteht, auch die eigenen Freunde nicht, die entweder ebenso an der Widersprüchlichkeit und den mangelnden Antworten leiden, oder die sich entsetzt abwenden. In den Familien wurde über Gefühle nicht gesprochen, oder zuviel und in zu belastender Weise gesprochen. Es fehlen Werkzeuge für den Umgang mit Stress, es fehlen Techniken zur Differenzierung, Verbesserung des Augenblicks, Ablenkung.

Was aus all dem entsteht, ist ein Zustand extremer innerer Anspannung. Er kann so stark sein, daß das Denken sich einengt, das Fühlen sich nur noch auf die Spannung konzentriert, der Körper sich von der Seele zu trennen scheint, indem einzelne Hautpartien oder Gliedmaßen nicht mehr richtig zu spüren sind. Hilfreich für das Verständnis sind Befunde aus der Neurobiologie: ein erhöhter Spiegel des Stresshormons Cortisol beeinträchtigt die Speicherung der spezifischen Eindrücke im Hippocampus, dem Gehirnareal, das auch in verbaler, konkreter Form Erinnerungen speichert. Stattdessen werden Eindrücke in der Amygdala gespeichert, die für das procedurale, nonverbale Erinnern zuständig ist. Wenn Patienten also sagen: „ich kann mich nicht erinnern“ oder „ich kann es nicht genau beschreiben, es ist nur ein dumpfes Gefühl“, wird damit genau das beschrieben, was wir neurobiologisch messen können.

Und was nun passieren kann: die Jugendliche greift zur Rasierklinge und schneidet sich in den Unterarm.

Alternativ schneidet sie in andere Körperregionen, mal oberflächlicher, mal tiefer, oft dutzendfach hintereinander, oft mit Nadeln, Nägeln, Scherben oder einfach nur den eigenen Fingernägeln. Es gibt zahllose Varianten, in Mode kommt auch das „Branding“, wo mit Deospray, aus nächster Nähe auf die Haut gesprüht, Erfrierungen erzeugt werden.

 


 

Gründe für selbstverletzendes Verhalten

1. Der naheliegendste Grund, den wir als Außenstehende und mit der Problematik kaum Vertraute oft unterstellen, ist die Suche nach Aufmerksamkeit. „Die will mehr Beachtung“, denken wir uns, was in einigen Fällen auch stimmen kann, und es gilt sicher sorgsam zu fragen, wo sich die Betroffene denn unbeachtet fühlt und wie man ihr besser entgegenkommen kann. Manche Patienten benutzen dieses Verhalten auch im Rahmen stationärer Aufenthalte zur Kommunikation ihres schlechten Befindens. Es gibt Spezialkliniken für Persönlichkeitsstörungen bei Erwachsenen, die den Patientinnen mit chronisch selbstverletzendem Verhalten das Päckchen mit Desinfektionsmittel und Pflaster in solchen Fällen einfach in die Hand drücken und sie eher in Ruhe lassen, als sie in genau diesem Moment auch noch zu umsorgen, um das Verhalten eben nicht zu verstärken. Die meisten Jugendlichen mit selbstverletzendem Verhalten tun das aber gerade nicht, um beachtet zu werden. Sie tun es heimlich. Sie tun es, wenn sie keiner sieht, und sie verdecken die Wunden und Narben, die entstehen. Vielen ist es sogar ausgesprochen peinlich, wenn andere ihre Verletzungen sehen und sie tragen selbst im Sommer langärmliche Shirts, damit die Arme bedeckt bleiben.

2. Ein häufiger Grund, den Jugendliche für Selbstverletzung angeben, ist Abbau innerer Anspannung. Die Spannung wird unerträglich und muss irgendwie gelöst werden, und als ob das Verletzen der Hautoberfläche die Spannung reduzieren würde, gleichsam wie das das Eröffnen eines schmerzhaften Furunkels, aus dem endlich der Eiter abfließen kann, wird diese Methode zur Spannungsreduktion benutzt. Eine 14jährige sagte einmal, sie empfinde es so, als ob ihre Gefühle stehengeblieben, eingefroren seien; wenn sie das Blut fließen sehe, dann fließe wenigstens einmal wieder etwas.

Die meisten Jugendlichen berichten über einen Gewinn, den sie für kurze Zeit aus der Selbstverletzung ziehen. Die Spannung wird reduziert, man beruhigt sich wieder ein wenig. Der Effekt hält oft nur einige Momente an, oft einige Stunden oder für den Rest des Tages.

3. Der dritte Grund für selbstverletzendes Verhalten hängt mit dem zweiten eng zusammen: Patientinnen geben an, sie verletzen sich, damit sie „sich mal wieder spüren“. Die einander widersprechenden Gefühle lähmen sich gegenseitig und scheinen sich auszulöschen, die fehlenden Handlungsmöglichkeiten bringen das innere Leben zum Erliegen. Einzig der selbst ausgelöste Schmerz vermag hier offenbar noch einen Reiz zu setzen. Er ist kontrollierbar, beherrschbar, vorhersehbar. Aufgrund der Anspannung und der Einengung des Fühlens nehmen die Patientinnen die Selbstverletzung oft nicht als richtigen Schmerz wahr, viele berichten, es tut eigentlich gar nicht weh, aber es ist überhaupt wieder ein Gefühl.

4. Der vierte Grund ist die absichtliche Selbstbestrafung. Hierbei handelt es sich um eine sehr komplexe Reaktionsweise in der Psychodynamik von persönlichen Beziehungen oder eigener Pathologie. Ursache kann ein Streit in der Familie sein, bei dem die Jugendliche Wut, zum Beispiel gegen die Mutter, empfindet. Die Mutter weist die Angriffe zurück, beschuldigt die Tochter. Die Tochter erlebt ihre Wut gegen die Mutter als schuldhaft, verboten, unmoralisch. Vorwürfe wie „du bringst mich noch ins Grab“ oder „bald brauche ich selbst einen Therapeuten“ seitens der Mutter verbalisieren das noch zusätzlich. Oder die Mutter verbalisiert gerade überhaupt nichts, zieht sich verletzt zurück, lässt alle Vorwürfe unausgesprochen, ist aber unübersehbar tief gekränkt. Oft ziehen sich die jungen Patientinnen dann in ihr Zimmer zurück und greifen zur Rasierklinge. Bestrafung. „Wenn Ihr mich als böse empfindet, dann brauche ich auch meine Strafe“. „Du bist verletzt, und ich bin auch verletzt, jetzt hast Du keinen Grund, noch darüber zu klagen“.

Häufig ist die Selbstverletzung auch im Rahmen komorbider Erkrankungen, z.B. Essstörungen. Die Magersüchtige verletzt sich zur Strafe, wenn sie entgegen ihrem erklärten Willen zu hungern, doch vom Nachtisch probiert hat. Die Bulimikerin verletzt sich, um sich für die Disziplinlosigkeit des letzten Fressanfalls zu bestrafen.

Was dem selbstverletzenden Verhalten, ganz gleich aus welchem der genannten Gründe, gemeinsam ist, ist die Entwicklung eines Suchtcharakters. Das Verhalten bewirkt eine Reduktion der zuerst verspürten Symptomatik und es treten Lerneffekte ein, die auch neurobiologisch begründbar sind – mit jedem Mal wird der Weg noch mehr gebahnt, es auch noch ein weiteres Mal zu tun. Einer der biochemischen Wege, die hier eingeschlagen werden, ist auch die Wirkung der körpereigenen Schmerzmittel, der Endorphine, die bei Hautverletzungen ausgeschüttet werden. Sie reduzieren die Wirkung des Stresshormons Cortisol, das bei den beschriebenen Anspannungszuständen in erhöhtem Maß vorhanden ist. So betrachtet, ist selbstverletzendes Verhalten tatsächlich auch biologisch nachweisbar eine effektive Methode zur Reduktion von innerem Stress, und das ist fatal und muß in der Therapie gut beachtet werden: man kann den Betreffenden weder einen Vorwurf machen, denn ihr Verhalten ist ja in gewisser Weise sinnvoll – „suboptimal“, sagen wir Psychiater auch -, noch kann man sie einfach auffordern, das Verhalten zu unterlassen, da sie ja nicht anders können und sich an die kurzfristig wohltuende Wirkung gewöhnt haben.

 


 

Was passiert in der Therapie selbstverletzenden Verhaltens?

Der therapeutische Weg, den wir einschlagen, bezieht sich auf die beschriebenen Defizite. Die Patienten sollen lernen, wieder mehr Handlungsoptionen zu gewinnen, andere Maßnahmen zur Streßreduktion einsetzen zu können wie Sport, Schreiben, Malen oder zumindest nur kalt Duschen. Sie sollen lernen, Gefühle sehr differenziert (z.B. auf einer Skala von 0-100) wahrzunehmen und mit vielerlei Worten auszudrücken, dabei auch Zwischentöne wahrzunehmen und Dissonanzen auszuhalten. Sie lernen kognitive Techniken wie das In-Frage-Stellen gewohnter Bewertungsweisen, also: „Wenn Person XY mich angrinst, ist das dann unbedingt ein verächtliches Grinsen, das mich herabsetzt? Kann es auch ein freundliches Anlächeln sein? Wie kann ich das überprüfen?“.

 Die Therapie des selbstverletzenden Verhaltens ist langwierig und aufreibend, und sie richtet sich natürlich auch nicht nur auf das Verhalten selbst, sondern auf die zugrundeliegende Problematik. Wichtig für die Patientinnen ist neben der Vermittlung der beschriebenen Fertigkeiten eine gewisse vorbehaltlose und wohlwollende Akzeptanz ihrer Verhaltensweisen. Nicht Verurteilen oder Tadeln, sondern realisieren und gemeinsam nach Lösungswegen suchen.

Essstörungen

Essstörungen: Wann ist Therapie überhaupt notwendig?

Essstörungen gehören bei Jugendlichen sind keine „Kleinigkeit“, sondern gehören zu den Störungen, die man am meisten ernst nehmen und am sorgfältigsten behandeln muss.

Zu Beginn machen Jugendliche oft eine für die Außenwelt nachvollziehbare Diät, die Mädchen erhalten viel Bestätigung von außen: „Du bist aber schön schlank geworden“, und fühlen sich ermutigt, weiterzumachen. Bei einer magersüchtigen Entwicklung laufen diese Bereiche aber mehr und mehr auseinander: der Gewichtsverlust ist inzwischen beträchtlicher, die Umwelt signalisiert: „Du siehst viel zu dünn aus, wieso tust du das?“, aber die Jugendliche ist noch immer nicht zufrieden mit ihrem Gewicht und ihrem Aussehen und möchte weiterhin abnehmen – und muss die Hinweise der Umwelt natürlich ignorieren und sich gleichzeitig mehr zurückziehen. Deshalb werden Mahlzeiten zunehmend „unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ eingenommen, außerhalb der Familienmahlzeiten, und Kontakte zu Freunden werden oft reduziert, vor allem, wenn sie mit Essen verbunden sind. Essen in Gesellschaft verlangt von einem magersüchtigen Mädchen viel Vorausplanung, weil es mit seinem selbsterstellten Diätplan nicht in Konflikt kommen möchte. Spätestens an diesem Punkt ist eine professionelle Beratung sinnvoll, denn je länger dieses Verhalten durchgehalten wird, umso stabiler wird es – das heißt, der Weg heraus wird immer schwieriger zu gehen.

Eine Bulimie tritt häufig nicht durch Gewichtsverlust in Erscheinung. Den Eltern fällt aber auf, dass der Kühlschrank öfter „geplündert“ ist, dass zunehmend Essensreste im Jugendzimmer auffindbar sind, dass die Jugendlichen auffällig oft nach den Mahlzeiten im Badezimmer „verschwinden“, und oft sind auch Spuren von Erbrochenem zu finden, oder die Jugendliche wird sogar zufällig von den Eltern oder Geschwistern beim Erbrechen „erwischt“. Auch an diesem Punkt ist es bereits notwendig, Kontakt zu einer professionellen Beratung herzustellen, denn absichtliches Erbrechen nach dem Essen ist niemals „normal“, und der Kontrollverlust, sich nicht mehr auf reguläre Mahlzeiten und normale Mengen beschränken zu können, ist ebenfalls einer Abklärung wert. Auch hier gilt nämlich, dass der „Weg hinaus“ umso schwieriger zu finden ist, je länger das problematische Verhalten schon geht.

Wenn die Gewichtsabnahme oder die Essanfälle mit nachfolgendem Erbrechen erst seit wenigen Wochen oder Monaten bestehen, ist es oft noch relativ gut möglich, im Rahmen einer ambulanten Behandlung „die Kurve zu kriegen“. Wenn das Problem aber schon ein halbes oder ganzes Jahr oder noch länger besteht, wird eine Änderung des trainierten Verhaltens selbst in einer Therapie immer schwieriger. Die krankhafte Überzeugung, trotz Normal- oder sogar Untergewichts „zu fett“ zu sein („Körperschemastörung“) kann bei längerem Verlauf sogar wahnhafte Züge annehmen, sie werden also zu festen Urteilen, die der Belehrung von außen nicht mehr zugänglich sind. Es ist überhaupt nicht damit zu rechnen, dass die beschriebenen Probleme „von alleine“ wieder aufhören oder einzig innerhalb der Familie lösbar sind. Die Beteuerungen einer Jugendlichen (sofern sie überhaupt bereit ist, über dieses Thema zu sprechen und nicht ohnehin alles verharmlost), „es schon zu schaffen“, oder die Bemühungen einer Mutter, durch „viel Hilfe“ ihrer Tochter aus der Krankheit herauszuhelfen, sind praktisch nie von Erfolg gekrönt. Unbehandelt führen Magersucht oder Bulimie aber in 10% der Fälle zum Tod, und ein Drittel der Erkrankten bleibt (sogar mit Therapie) chronisch über viele Jahre krank. Die durchschnittliche Dauer einer Essstörung im Jugendalter beträgt 5 Jahre. Deshalb ist es überaus wichtig, eine Behandlung frühzeitig zu beginnen, mit Hilfe von Experten durchzuführen und ausreichend lange beizubehalten.

 


 

Was erwartet einen, wenn man das erste Mal zu einem Therapeuten geht?

 

Zunächst wird ausführlich die Vorgeschichte der Essstörungs-Symptomatik besprochen. Wie es anfing, wie es stärker wurde, wie sich das Gewicht entwickelt hat, welche anderen Maßnahmen zur Gewichtsreduktion man ergriffen hat (Sport, Abführmittel, Erbrechen). Besprochen wird auch das soziale Leben: die Familie, der Freundeskreis, die Schule – welche Einschnitte hat es zu Beginn der Essstörung gegeben, was hat sich in der seitdem vergangenen Zeit verändert, was hat sich verschlechtert, was ist vielleicht sogar besser geworden (manche Patienten erfahren z.B. mehr Beachtung, wenn sie abnehmen), wo ist es schon zu sozialem Rückzug oder Verlust der Leistungsfähigkeit (Schule) gekommen? Wichtig ist auch, begleitende psychische Symptome zu erfragen: Ängste, Stimmungsschwankungen, Depression, Zwänge.

Weil zur Einordnung all dieser Faktoren viel Fachwissen erforderlich ist, ist es am besten, zur Abklärung einer Essstörungssymptomatik einen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie aufzusuchen, da er über das größte therapeutische und medizinische Wissen verfügt. In Frage kommen auch psychologische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (die aber die körperliche Symptomatik nicht genau einschätzen können und deshalb zumindest mit Ärzten kooperieren müssen), Kinder- und Jugendärzte (die aber oftmals die psychische Symptomatik nicht beachten und dann das niedrige Körpergewicht fälschlicherweise als unbedenklich einstufen) oder Beratungsstellen von Gesundheitsämtern (die aber keine Therapie anbieten können und deshalb immer nur erste Anlaufstelle sein können). In einigen Städten gibt es spezialisierte Beratungsstellen für Menschen mit Essstörungen, die auch Therapie anbieten, deren Mitarbeiter hochqualifiziert sind und die mit Ärzten kooperieren, um auch die körperlichen Aspekte ausreichend zu berücksichtigen.

Betroffene und ihren Angehörige können sich auch im Internet ausführliche Informationen über das Krankheitsbild beschaffen und sich in Foren und Chatrooms mit anderen austauschen. Die beste Adresse dafür ist das Portal www.hungrig-online.de – an diesen Seiten arbeiten mehrere Fachleute (Ärzte und Psychologen) mit, sie enthalten eine Fülle von Informationen für Betroffene und Angehörige, und es gibt zahlreiche Online-Foren zu den verschiedenen Themenbereichen mit tausenden von Teilnehmern.

In diesem ersten Gespräch bei einem Therapeuten ist wichtig, dass die Betroffene so ehrlich wie möglich Auskunft gibt. Es hat wenig Sinn, einem Therapeuten nur „die halbe Wahrheit“ oder Beschönigungen und Verharmlosungen zu erzählen. Eine Behandlung macht meist nur dann Sinn, wenn man bereit ist, die Probleme offen auf den Tisch zu legen und – wenn es auch schwer fällt – eine Veränderung zu wagen. Die Situation ist vergleichbar mit einem Schiffbrüchigen, der sich im Wasser treibend an einer zerbrochenen Planke festhält (die Essstörung), sie aber nun loslassen muss, um zum rettenden Ufer zu schwimmen. Das sieht wie ein Wagnis aus, wie etwas, von dem man meint, man kann es vielleicht gar nicht schaffen. Eine Betroffene erlebt ihre Essstörung oft als etwas Sicherheit gebendes, Stabilisierendes, Verlässliches – trotz aller Verzweiflung oder Enttäuschung, die sie vielleicht parallel darüber empfindet. Sie will sie nicht aufgeben, weil sie nicht weiß, was danach kommt, und weil sie nicht genügend Vertrauen besitzt, dass ein „Leben ohne Essstörung“ ein besseres, glücklicheres sein könnte. Hier kommt es darauf an, dass der Therapeut der Patientin schon im Erstgespräch den Anfang eines solchen Vertrauens vermittelt: die Möglichkeit, dass es mit Therapie ja besser werden könnte. Erfahrungsgemäß fällt das aber sehr vielen Patienten zu schwer. Der andere Teil der Beratung im Erstgespräch ist deshalb auch, die Patientin über die Gefahren der Erkrankung aufzuklären und ihr und ihren Angehörigen zu verdeutlichen, dass die Erkrankung chronisch verlaufen und möglicherweise mit dem Tod enden kann – und dass es aus therapeutischer Sicht keine Alternative zu einer Behandlung gibt. Selbstverständlich ist jede Therapie dann am effektivsten, wenn sie freiwillig und von einem Veränderungsbedürfnis ausgehend unternommen wird. Es ist aber auch die Pflicht eines Therapeuten, bei beispielsweise gefährlich niedrigem Körpergewicht die Eltern einer jugendlichen Patientin darüber aufzuklären, dass es ihrer Tochter aufgrund der Körperschemastörung und der mangelnden Krankheitseinsicht nicht möglich ist, eine sinnvolle Entscheidung zu treffen, und dass ihnen als Eltern hier eine große Verantwortung zukommt. Man ist nicht in allen Lebenssituationen in der Lage, eine freie Entscheidung zu treffen.

Wenn nun in diesem persönlichen Erstgespräch bei einem Therapeuten die wesentlichen Fakten gesammelt sind, ist es sinnvoll, sich zunächst wieder zu trennen und das Besprochene zu „verdauen“. Die Mehrzahl der Betroffenen ist schockiert, enttäuscht oder voller Widerstand: weil sie die Krankheit völlig verleugnen und sich darüber ärgern, wie man ihnen „so etwas“ unterstellen kann; weil sie nicht zugeben möchten, dass all das tatsächlich stimmt; oder, weil sie einsehen, dass sie tatsächlich an einer Essstörung leiden, aber jetzt erstmals das Ausmaß begreifen und immense Angst vor der Veränderung bekommen, die von ihnen verlangt wird.

In einem zweiten Termin sollten offene Fragen besprochen werden, und bald danach wird, wenn Patientin und Eltern einverstanden sind, eine konkrete Vereinbarung zwischen Patientin und Therapeut geschlossen, wie die Behandlung aussehen soll und welche Ziele sie hat.

Reicht ambulante Therapie – und wie lange dauert sie?

Eine ambulante Therapie ist möglich, wenn die Essstörungs-Symptome noch nicht allzu lange bestehen, wenn bei der Betroffenen eine Krankheitseinsicht und der erklärte Wille zur Mitarbeit vorhanden sind, und wenn die Symptomatik und die körperlichen Folgeerscheinungen kein gravierendes Ausmaß haben. Üblich sind dann bei einer ambulanten Therapie wöchentliche Termine von etwa 50 Minuten Dauer über mehrere Monate, bis die unten beschriebenen Therapieziele erreicht sind und die Patientin einigermaßen sicher ist, jetzt auch selbst stabil bleiben zu können. Üblicherweise wird man die Therapie dann aber auch nicht abrupt beenden, sondern langsam auslaufen lassen, indem die Abstände zwischen den Terminen vergrößert werden, bis sie eher Kontrollterminen als Therapiestunden gleichen.

Therapie ohne Eltern?

Oft entsteht bei Jugendlichen, die ein sehr angespanntes Verhältnis zu ihren Eltern haben, die Frage, ob sie auch alleine und ohne Wissen ihrer Eltern zu einem Erstgespräch kommen können, da sie nicht möchten, dass ihre Eltern davon erfahren. Das ist zwar in vielen Fällen möglich, aber nur vorläufig. Denn einerseits ist es rechtlich problematisch, wenn Minderjährige ohne Wissen (und Einwilligung) ihrer Eltern eine Therapie machen, und zweitens besteht eine Therapie auch immer darin, die Familie in geeigneter Weise einzubeziehen, da ein Teil der Probleme, unter denen Jugendliche mit Essstörungen leiden, mit ihrer Familie zusammenhängt, und weil auch die Hauptsymptomatik, nämlich das gestörte Essverhalten, sich zu Hause abspielt.


Ziele der Therapie

In allen Fällen geht es um drei Bereiche von Zielen.

Das erste Therapieziel ist eine Normalisierung des Essverhaltens (Häufigkeit, Menge, Zusammensetzung und Dauer der Mahlzeiten), dazu auch die Reduktion von Essanfällen, Erbrechen und anderen Maßnahmen.

Das zweite Therapieziel ist die Wiederherstellung eines normalen Körpergewichts (sofern es nicht schon vorhanden ist).

Das dritte, und oft schwierigste Therapieziel ist, miteinander ein „persönliches Störungsmodell“ zu entwickeln, also zumindest teilweise zu verstehen, wie es zur Essstörung kam, und daraus auch alternative, neue Verhaltensweisen zu entwickeln, die der Betroffenen helfen sollen, die Essstörung nicht mehr zu „brauchen“.

1. Ziel: Normalisierung des Essverhaltens

Zur Normalisierung des Essverhaltens ist in der Therapie wichtig, zunächst einen Abschnitt „Ernährungsberatung“ zu behandeln: welche Bestandteile haben die verschiedenen Nahrungsmittel, und wie viel davon benötigt mein Körper pro Tag? Im Verlauf einer „magersüchtigen Entwicklung“ wird der Blick diesbezüglich oft sehr „verzerrt“, und Betroffenen gelingt es immer weniger, realistisch einzuschätzen, welche Auswirkung das Essen bestimmter Nahrungsmittel oder auch der Verzicht auf sie auf den Körper hat. Hier ist dann eine klare Stellungnahme und eine solide und ausführliche Beratung nötig.

Außerdem wird zu Beginn der Therapie auch mit dem Führen eines „Essprotokolls“ begonnen: die Patientin schreibt über einige Zeit (meist mehrere Wochen) auf, was und wie viel sie isst (aber selbstverständlich nicht, wie viele „Kalorien“ diese Nahrung hat, denn durchgängiges Kalorienzählen gehört ausschließlich in den kranken Bereich und sollte im normalen Leben keinen Platz haben). Notiert wird nach Möglichkeit auch, in welchen Situationen das Essen stattfand, wie die Gefühle davor und danach waren und ob dem Essen Maßnahmen zur Gewichtsreduktion folgten. Dieses Essprotokoll gibt der Patientin und der Therapeutin die Möglichkeit, Menge, Tagesverteilung und Ausgewogenheit der Nahrung zu überprüfen und immer wieder Korrekturen anzubringen. Auch eine Erklärung für eine eventuell ausbleibende Gewichtszunahme während der Therapie wird sich oftmals hier finden lassen.

Helen, eine 17jährige Patientin, kommt zur ambulanten Therapie. Während der ersten Wochen bleibt eine Gewichtszunahme trotz Gewichtszunahmevereinbarung aus. Im Essprotokoll finden sich gehäuft nur geringe Nahrungsmengen, aber zahllose Äpfel verzeichnet. Helen selbst räumt es in der Therapiestunde auch ein – so klar war ihr das bisher selbst nicht. Es wird eine konkrete Vereinbarung getroffen, welche Mahlzeiten und Komponenten bis zur nächsten Therapiestunde keinesfalls fehlen sollten. Helen hält sich daran – und nimmt zu.

Schließlich hilft das Protokoll auch, der Patientin den Zusammenhang zwischen Essen und Essproblemen und Lebenssituationen bzw. Gefühlen verständlicher zu machen, denn darauf kommt es oft erst an: ich habe in dieser Situation nicht gegessen, weil… – ich habe in jener Situation einen Essanfall bekommen, weil

Judith, eine 18jährige Patientin, kommt wegen Bulimie in ambulante Behandlung. Durch das Führen der Essprotokolle wird ihr klar, dass sie immer dann einen besonders starken „Essdruck“ bekommt, wenn sie in der Schule gestresst war, Streit mit ihrer Mutter hatte, und sich einsam fühlt, weil keiner ihrer Freunde Zeit hat. Schrittweise kann sie lernen, in diesen Situationen auf andere Verhaltensmuster zuzugreifen, als zu essen.

Als Ergänzung wird in der Therapie auch besprochen, wie die Patientin Essanfällen vorbeugen kann, und welche alternativen Verhaltensweisen bei erhöhtem „Essdruck“ angewendet werden können.

2. Ziel: Wiederherstellung eines normalen Körpergewichts

Dass ein Körpergewicht im Normalbereich zur Bewältigung einer Essstörung gehört, ist nicht verwunderlich – man kann schließlich nicht eine Magersucht hinter sich lassen, aber mager bleiben. Für das Ermitteln eines „Zielgewichts“ hat es sich bewährt, den Body Mass Index (BMI) zu errechnen (indem Größe und Gewicht nach einer Formel in Beziehung zueinander gesetzt werden) und als Ziel die 25. Altersperzentile zu nehmen, die sich aus Tabellen herauslesen lässt. Perzentilen sind Prozentrang-Linien; die 25. Perzentile bedeutet, dass bei diesem BMI 25% der Mädchen einen niedrigeren und 75% einen höheren BMI haben. Altersperzentile bedeutet wiederum, dass diese Werte sich mit steigendem Alter ändern: wer jünger ist, muss bei gleicher Körpergröße nicht so „schwer“ sein wie jemand, der älter ist.

Ein verhaltenstherapeutisches Konzept beinhaltet, dass zu Beginn der Therapie dieser BMI auf der 25. Altersperzentile berechnet wird und dann zwischen Patientin und Therapeut eine wöchentliche Gewichtszunahme von 300g vereinbart wird, so lange, bis das Zielgewicht erreicht ist. Bei wöchentlich 300g lässt sich auf diese Weise auch das Datum errechnen, bis zu dem das Zielgewicht erreicht sein soll, und dieses Datum wird in den Vertrag mit aufgenommen.

Verena ist 12 Jahre alt und wegen einer Magersucht in ambulanter Behandlung. Ihr Gewicht liegt 6kg unter der errechneten 25. BMI-Altersperzentile. Als Zunahmezeitraum wird damit ein Bereich von 10 Kalenderwochen festgelegt. Verena ist motiviert und bemüht sich zunächst, zuzunehmen. Nach 3 Wochen kommt eine Krise, sie meint, nicht „so viel“ dauerhaft essen zu können. Mit Hilfe des Essprotokolls werden belastende Familiensituationen erkannt, in denen Verena das Essen besonders schwer fällt. Durch Umverteilung während des Tages wird eine für sie angenehmere Nahrungsverteilung erreicht, die ihr auch weniger Druck macht. Ihre Mutter wird noch einmal instruiert, auf jegliche Kommentare oder „Ermutigungen“ zum Essen zu verzichten. Nun gelingt Verena das Zunehmen sogar vor Ende des 10-Wochen-Zeitraums.

Was ist nun, wenn eine Patientin im Therapieverlauf einmal nicht die vereinbarten 300g Gewicht zunimmt? Durch Analyse des dazugehörigen Essprotokolls lässt sich vielleicht ein Grund dafür finden. Bis zur nächsten Woche muss die Patientin dann wieder 300g zugenommen haben, sonst erhält sie die „Gelbe Karte“. Falls in der dann darauffolgenden Woche die 300g Zunahme wieder (zum 3. Mal) nicht geschafft wurden, sollte man sich eingestehen, dass das Ziel der ambulanten Therapie – nämlich unter anderem auch eine Gewichtszunahme – nicht erreicht ist und nun eine stationäre Aufnahme nötig ist.

Es gibt Therapeuten, die nicht auf diese „strenge“ verhaltenstherapeutische Weise vorgehen, sondern den Aspekt der Eigenverantwortlichkeit in der Therapie mehr betonen. Dieses Therapieprinzip hat auch seine Richtigkeit, aber dennoch sollte eine Normalisierung des Essverhaltens und des Körpergewichts ein messbarer Faktor zur Beurteilung der Therapie sein. Wenn Therapeuten den Patientinnen die Regie über das Essen vollständig überlassen, ohne diesbezüglich eine Absprache oder Kontrolle durchzuführen, besteht die Gefahr einer „Alibi-Therapie“, mit der die Patientin vorweisen kann „ja etwas zu tun“, in Wirklichkeit aber alles beim Alten belässt.

Gerade für jugendliche Patientinnen ist allerdings ein wesentlicher Anteil in der Aufrechterhaltung ihrer Essstörung, dass ihre Eltern, besonders ihre Mütter, sich so sehr in ihr Essen einmischen. Es fällt vielen Eltern sehr schwer, diese Rolle loszulassen, und plötzlich nicht mehr verantwortlich für die Ernährung ihres „Kindes“ zu sein. Aber gerade dieses Loslassen stellt oft einen sehr wesentlichen Teil des Therapieprozesses dar. Es funktioniert allerdings in der Regel nur, wenn die Mutter die Verantwortung für die „richtige Ernährung“ an eine andere Person abgeben kann – eben z.B. den Therapeuten, der am Tag der Vertragsunterzeichnung zur Mutter sagt: „Kümmern Sie sich ab jetzt nicht mehr darum, wie viel oder wenig Ihre Tochter isst. Ermutigen Sie sie nicht mehr, kritisieren Sie nicht, wenn es ihnen zu wenig scheint, schauen Sie nach Möglichkeit nicht mal so genau auf ihren Teller. Lassen Sie es meine Sorge sein – in meiner Praxis wird Ihre Tochter jede Woche gewogen, ich bespreche mit ihr das Essprotokoll, und ich kümmere mich darum, wenn etwas nicht vorangeht. Ich werde mich bei Ihnen melden, wenn es deutliche Probleme gibt!“ Diese Übernahme von Verantwortung ist für manche Mütter schwer zu bewerkstelligen, weil es ihnen nicht gelingt, ihr „Kind“ loszulassen. Das ist dann aber natürlich genau ein Teil des Krankheitsprozesses und bedarf dringender Veränderung, da die Patienten das als einengend und bedrückend empfinden: ihnen „schnürt es die Kehle zu“, „schlägt ihnen auf den Magen“, „stößt ihnen sauer auf“. Andere Mütter sind „heilfroh“, endlich diesen täglichen Kleinkrieg übers Essen nicht mehr gegen ihre Tochter führen zu müssen, sondern sich wieder auf das Miteinander und die Gemeinsamkeiten konzentrieren zu können, was der Beziehung meist sehr gut tut, und damit auch dem Gesundwerden.

Manche Patientinnen mit Bulimie haben in Folge der Essanfälle kein zu niedriges, sondern ein zu hohes Körpergewicht. Hier ist natürlich eine kontrollierte Reduktion sinnvoll. Es wird ein BMI-Korridor berechnet, in den die Patientin kommen soll – ohne Radikaldiät, sondern mit vernünftiger und gesunder Ernährung. Dieser Korridor kann z.B. von der 60. bis zur 25. BMI-Altersperzentile reichen (s.o.).

3. Ziel: Persönliches Störungsmodell und Wiedererlangen von Lebens-Kompetenzen

Während in den ersten Therapiestunden sicherlich das Besprechen der Essprotokolle und des Essverhaltens einen breiteren Raum einnimmt, gewinnt danach zunehmend der eigentlich psychotherapeutische Anteil Bedeutung. So gut es möglich ist, sollte herausgefunden werden, wie der persönliche „Weg in die Essstörung“ aussah, welche Umgebungsfaktoren zu Beginn (falls er sich noch feststellen lässt) herrschten, welche Ansprüche und Enttäuschungen beispielsweise bestanden – von Seiten der Eltern, aus dem eigenen Inneren, durch die Altersgenossen. Welchen „Vorteil“ hat es mit sich gebracht, die Essstörung zu entwickeln, wo gab sie Sicherheit und Kontrolle, wo nahm sie das Gefühl von erwünschter Disziplin und Beherrschung? Wo verlieh die Essstörung das Bewusstsein „einzigartig“ zu sein, „anders“ als die anderen, nicht „mittelmäßig“? Wo erlebt die Patientin sich stark, wo schwach? Was ist an Menschen, an ihren Körpern, an ihrem Geist, „schön“ oder „nicht schön“? Was würde übrig bleiben, wenn die Patientin die Essstörung loslassen würde? Welche Beziehungen müssten geklärt werden, um zu diesem Schritt des Loslassens fähig zu werden? Müssten sich auch andere Menschen ändern – die eigenen Eltern beispielsweise – in ihren Ansprüchen, Wünschen, in ihrem Kontaktverhalten, ihrem Kontrollbedürfnis? Oder in ihrem Verhalten, ihrer Beziehung zueinander?

Monika, eine 15jährige Patientin, wurde wegen Magersucht stationär behandelt. Schnell zeigte sich, dass ihre Eltern in einer tieferen Beziehungskrise steckten, sich aber in der immer größer werdenden Sorge um ihre Tochter immer weniger um ihre Eheprobleme kümmern konnten: die Ehekrise schien zu verschwinden. Dem Mädchen ging es besser, die Eltern konnten aufatmen und sich endlich wieder auch miteinander beschäftigen – die Ehekrise kam wieder auf. Prompt erlitt die Patientin, die inzwischen auch aus der Klinik entlassen wurde, einen Rückfall – die Magersucht war wieder „nötig“, um die Eltern am Austragen ihrer Streitigkeiten zu hindern. Letztendlich war erst ein Auszug von zu Hause die Möglichkeit für die Patientin, ein Leben unabhängig von dem ihrer Eltern zu entwickeln und die Magersucht nicht mehr zu „brauchen“.

Diese und viele andere Fragen werden in der Therapie besprochen, und mit den gefundenen Antworten wird nach und nach versucht, alternative Denkweisen zu entwickeln: wie kann die Welt auch noch sein? Was macht mich in Wirklichkeit einzigartig? In Gesprächen und „Therapiehausaufgaben“ wird versucht, diese Ideen in die Praxis umzusetzen, zu fühlen, wie es sich anfühlt, anders als bisher zu denken, erste Versuche in einem kontrollierten Rahmen zu machen, der Sicherheit bietet und Neues erlaubt. Die Patienten können dadurch die Erfahrung machen, dass sie es mühelos überleben, in der Schule eine schlechtere Note als 2 zu erhalten, mit zwei verschiedenen Schuhen auf die Straße zu gehen, im Freundeskreis ein Gedicht zu rezitieren, unbekannte Menschen erstmals anzusprechen oder schwierige Anrufe zu tätigen. All diese Übungen zur Entwicklung sozialer Kompetenz haben zunächst mit einer Essstörung nichts zu tun, aber der Erfolg in diesen Übungen entzieht den Essstörungen einen Teil ihrer Grundlage, nämlich den der Selbstunsicherheit und des Perfektionsstrebens.

In dieser Weise wird während der Therapie teils nach einem festgelegten Schema, großenteils aber auch frei und den individuellen Bedürfnissen der Patientin gerechter werdend das Relativieren alter Gewohnheiten geübt, um den Blick zu weiten für neue Perspektiven.


Grenzen einer ambulanten Behandlung

Bei einem sehr starken Untergewicht, bereits eingetretenen körperlichen Schäden (Elektrolytmangel im Blut, Herzbeutelerguss, Schwächeanfälle) oder starker Symptomatik, die das Leben sehr beeinträchtigt (mehrmals tägliche Essanfälle mit Erbrechen, soziale Isolation, Unfähigkeit zum Schulbesuch) ist bereits zu Beginn eine stationäre Behandlung nötig. Es ist selten möglich, ein so beträchtliches Ausmaß an Beeinträchtigungen durch einmal-wöchentliche Gesprächskontakte zu verändern, und es wäre ein möglicherweise gefährlicher Zeitverlust, „erst einmal“ eine ambulante Therapie zu versuchen.

Wenn während einer regelhaft durchgeführten ambulanten Behandlung keine ausreichende Normalisierung des Essverhaltens, oder vor allem keine Gewichtszunahme erkennbar ist, obwohl nach dem beschriebenen Schema „Puffer“ eingebaut sind, muss die ambulante Behandlung nach einem vorher festgelegten Kriterium als „nicht erfolgreich“ erklärt und eine stationäre Aufnahme vorbereitet werden.

Lisa, bald 13 Jahre alt, kommt mit ihren Eltern im Mai zum Erstgespräch zum Kinder- und Jugendpsychiater. Sie hat bereits 2 Jahre ambulante Therapie bei einer Psychologin hinter sich, deren Sinn sie selbst nicht so recht einsieht und die auch das Thema Essen nicht ausdrücklich beinhaltet. Schnell wird im Gespräch klar, dass sie ausgesprochen „pro-anorektisch“ denkt: „Ich will aber nicht gesund werden. Glücklich werde ich nur, wenn ich nicht essen muss und abnehmen kann“. Dabei liegt ihr Gewicht nur knapp über der 3. BMI-Altersperzentile. Bei der Erläuterung der Therapie-Möglichkeiten sagt Lisas Vater, er sehe den Sinn einer stationären Therapie schon ein, wolle aber zunächst den Wechsel in die 8. Klasse des Gymnasiums im September (also 4 Monate nach dem Erstgespräch) abwarten, da Lisa ohnehin kaum stabile Sozialkontakte habe und dann die Klasse neu gemischt werde.

Als den Eltern und auch Lisa erläutert wird, dass die Magersucht offenbar jetzt schon chronisch verläuft und die bisherige Therapie Lisas Einstellung zum Thema Körper und Essen nicht verändern konnte, weshalb also eine stationäre Behandlung mehr als dringlich ist, schließen sie sich der Argumentation an und vereinbaren einen ersten Vorstellungstermin in einer jugendpsychiatrischen Klinik.

Ebenso stellen Begleiterkrankungen oft eine Indikation zur stationären Therapie dar, z.B. Depression, abrupte Stimmungsschwankungen, Substanzmißbrauch, Angststörungen, oder natürlich akute oder auch latente Suizidalität (Gedanken, nicht mehr Leben zu wollen).

Was passiert bei einer stationären Therapie – und wie lange dauert sie?

Eine stationäre Behandlung von Essstörungen läuft ähnlich ab wie die bereits beschriebene ambulante. Vielen Patientinnen ist es im ambulanten Rahmen trotz aller Bemühungen nicht gelungen, die Verantwortung für ihr Essen selbst zu übernehmen, weil die Skrupel zu groß sind und sie befürchten, durch Mehr-Essen „zu fett“ zu werden. Diese Patientinnen erfahren in der stationären Therapie eine große Erleichterung, denn die Verantwortung für die Essensmenge wird ihnen abgenommen, indem die Mahlzeiten genau geregelt sind und sie vorportioniertes Essen erhalten. Viele Patientinnen sagen am Ende ihrer Therapie, dass sie – trotz aller anfänglichen Proteste gegen diese Essensmengen – im Nachhinein froh über diese Maßnahme waren, da sie es aus eigener Kraft nie geschafft hätten, sich auf diesem Weg eine Zunahme zu erlauben. Da aber die Mitarbeiter der Klinik quasi sagten: „Du musst dir nichts erlauben. Wir nehmen dir die Verantwortung ab“, konnten sie sich darauf einlassen. Manche Kliniken verstehen es auch gleich von Beginn an als Ausdruck der neu gewonnenen Kompetenz der Patientinnen, dass sie durch eigene Einteilung der Essmenge eigenständig an Gewicht zunehmen, aber gerade jugendliche Patientinnen profitieren meist mehr von einer engeren, verhaltenstherapeutisch orientierten Vorgabe. In manchen Kliniken ist alleine die durch das Essen erreichte Gewichtszunahme von Bedeutung, an die dann zunehmende „Freiheitsgrade“ gekoppelt sind, wie Schulunterricht, Besuch, Ausgang von Station, Beurlaubungen etc. Manche Kliniken belohnen zusätzlich noch den vollständigen Verzehr der Mahlzeiten. Üblicherweise essen Patientinnen mit Essstörung gemeinsam mit Betreuern („Modellessen“) in einer separaten Gruppe. Ziel ist auch hier die Zunahme auf ein vorher schriftlich vereinbartes „Zielgewicht“. Sobald es erreicht ist, dürfen Patientinnen selbst entscheiden, wie viel sie (ab einer gewissen Mindestmenge) zu sich nehmen vorausgesetzt, sie halten durch dieses eigenständigere Essen ihr erreichtes Gewicht.

Außerdem bietet eine stationäre Behandlung eine Reihe von Möglichkeiten, die über den ambulanten Rahmen hinausgehen: In einer Modellküche können unter fachkundiger Anleitung Mahlzeiten gekocht werden – vom Einkauf über die Zubereitung bis zum gemeinsamen Essen. Für viele Patientinnen ist dies eine gute Hilfe, wieder neu einschätzen zu lernen, welche Zutaten ein „normales“ Essen hat und welche Mengen eigentlich „normal“ sind. Es gibt gruppentherapeutische Angebote, in denen man gemeinsam mit anderen sowohl über die belastenden, „essgestörten“ Gedanken sprechen und miteinander Gegenstrategien entwickeln kann, als auch körperorientiert arbeiten (z.B. Silhouetten-Einschätzungen mit Seilen oder gemalten Umrissen auf Papier mit gegenseitiger Rückmeldung). In vielen Kliniken wird auch Kunsttherapie als Ausdrucksform eigener Gefühle angeboten; auch das Erlernen von Entspannungsverfahren (Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung) kann sich sehr positiv auswirken, da die Patientinnen dadurch lernen, in Stresssituationen ruhiger zu bleiben und alternative Lösungen statt Essensverzicht oder Überessen anzuwenden.

Außerdem ist der Abstand zur eigenen Familie oft für die Patientinnen der ausschlaggebende Faktor, der ihnen überhaupt erst ermöglicht, wieder frei zu essen. Eine Patientin sagte einmal: „Das Dumme ist, dass mir sogar schmeckt, was meine Mutter kocht, aber ich möchte auf keinen Fall, dass sie irgendwie bemerkt, dass ich es genieße – also esse ich in ihrer Gegenwart nichts!“

Die Dauer einer stationären Behandlung beträgt für Jugendliche mehrere Monate, da nicht nur die Gewichtszunahme und das normalisierte Essverhalten, sondern besonders die psychotherapeutische Komponenten, nämlich das Verändern von Bewertungen und Einstellungen, viel Zeit benötigt. Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass die Rückfallgefahr umso mehr steigt, je früher ein stationärer Aufenthalt beendet wird. In jugendpsychiatrischen Kliniken haben die Patientinnen auch immer Schulunterricht, so dass bei genügendem Fleiß oft auch das aktuelle Schuljahr bestanden werden kann. Einigen Patientinnen, die angesichts der mehrmonatigen Therapie das Klassenziel nicht erreichen und das Jahr wiederholen müssen, ist zu raten, diese Zeit dennoch zu investieren, da sie ohne eine Therapie zwar zunächst keine Schule verpassen, auf lange Sicht aber überhaupt nicht mehr in der Lage sein werden, dem Unterricht zu folgen (weil bei fortbestehender und zunehmender Essstörung die Konzentrationsfähigkeit stark sinkt) oder die Schule überhaupt zu besuchen, da psychische und körperliche Folgeerscheinungen das mehr und mehr verhindern.

Im Laufe der stationären Therapie sollten auch die Eltern oder Angehörigen konkreter in die Behandlung einbezogen werden. Zu Anfang finden nur in regelmäßigen Abständen Eltern- oder Familiengespräche statt, in denen die Angehörigen über das Krankheitsbild und auch den Therapiefortschritt der Patientin informiert werden können. Im weiteren Verlauf sollten dann auch „Familienmahlzeiten“ auf Station stattfinden, wo die Eltern unter Begleitung eines Therapeuten gemeinsam mit der Patientin z.B. frühstücken. Viele Patientinnen haben große Angst vor einem solchen Zusammentreffen, was wiederum die große Dynamik zeigt, die diese Familienbeziehungen in der Aufrechterhaltung der Essstörung haben – und was umso mehr unterstreicht, wie wichtig die Einbeziehung der Familie ist. So, wie es (wie oben beschrieben) insbesondere für Mütter oft eine große Entlastung darstellt, sich zunächst nicht mehr um die Ernährung ihrer Tochter kümmern zu müssen, so wichtig ist es, neu zu lernen, auf welche Weise sie denn jetzt mit diesem Thema umgehen sollen. Selbst nach der Entlassung von Station – oder, bei ambulanten Therapien, auch in der Schlussphase der Therapie – ist das ein großes Problem. In vielen Familien müssen nach erfolgreicher Therapie die Eltern erst einmal lernen, dass ihre Tochter jetzt „wieder normal“ ist und isst, und dass sie dieses Leben in der Normalität entschieden zulassen müssen, damit ihre Tochter aus der Rolle der Ständig-Beäugten herauskommt und sich wieder wohlfühlen kann.

Freiwillig oder nicht?

In vielen Fernsehberichten sieht es so aus, als ob eine Klinikbehandlung unter Zwang stattfindet, die Patientinnen praktisch entmündigt sind und die Ernährung auch immer mal mit Magensonde stattfindet – wo also über eine Sonde, die durch ein Nasenloch in den Magen geführt wird, kalorienreiche Flüssignahrung zugeleitet wird. 

Richtig ist an diesen Berichten lediglich, dass diese Dinge prinzipiell stattfinden können. Nämlich immer dann, wenn das Untergewicht einer Patientin bereits lebensbedrohlich ist und sie sich weigert, freiwillig eine Therapie zu machen. Dann können ihre Eltern das Familiengericht einschalten und eine geschlossene Unterbringung und medizinische Behandlung auch gegen den Willen der Patientin beantragen. Wenn der Richter dem stattgibt, können diese Zwangsmaßnahmen erfolgen – und das ist für manche Patientin lebensrettend.Falsch an diesen Berichten ist, dass man den Eindruck gewinnt, Derartiges würde häufig stattfinden. Es sind Ausnahmefälle, die allein deshalb eigentlich gar nicht eines Fernsehberichts wert sind. Medien sind aber naturgemäß an tragischen Schicksalen interessiert, denn wenn es harmloser ist, reißt es nicht so mit. Die überwiegende Mehrheit aller Essstörungs-Therapien verläuft aber tatsächlich freiwillig, ohne Zwangseinweisung, ohne jegliche künstliche Ernährung (auch nicht mit trinkbarer Flaschen-„Astronautenkost“, denn auch die ist unphysiologisch und somit nicht natürlich), sondern ausschließlich aufgrund geschlossener Vereinbarungen, durch eigenes Essen, kombiniert mit Psychotherapie und positiver Verstärkung. Natürlich stellen es manche Patientinnen als „Erpressung“ dar, wenn sie nur dann Ausgang von Station erhalten, wenn sie die vorportionierte Nahrungsmenge aufgegessen haben. Hier müssen dann immer wieder Klärungsgespräche geführt werden, die aufzeigen, dass Erpressung ein Straftatbestand ist, bei dem Menschen sich bereichern, indem sie anderen Gewalt oder ein Übel androhen. Beides liegt der Therapie einer Essstörung fern: weder möchte der Therapeut von der Patientin Geld oder Gut haben, noch ist das vertragsgemäße Ausfallen des Ausgangs Gewalt oder Übel. Wenn derartige Diskussionen mit dem nötigen Respekt gegenüber dem Wunsch der Patientin, aber auch mit Bestimmtheit geführt werden, arten sie meist nicht in Streit aus und sind für die Patientinnen letztendlich auch akzeptabel.

Selbstverständlich gibt es Umstände, unter denen Patientinnen die stationäre (oder auch ambulante) Behandlung nicht weiterführen möchten. In den allermeisten Fällen steht ihnen das frei, und nach angemessener Diskussion mit dem Therapeuten und den Angehörigen kann jede begonnene Behandlung auch wieder beendet werden. Eine Ausnahme stellt nur dar, wenn – wie bereits beschrieben – das Untergewicht nachvollziehbar lebensbedrohlich ist und womöglich auch eine Krankheitseinsicht fehlt. Wenn in solch einem Fall nicht nur die jugendliche Patientin, sondern auch noch ihre Eltern den Abbruch der Behandlung wünschen, lässt sich von Seiten der Ärzte auch der Entzug des Sorgerechts der Eltern bei Gericht beantragen. Glücklicherweise ist dieser Fall noch seltener als die Behandlung einer Patientin gegen ihren Willen auf Antrag der Eltern.

In allen anderen Fällen kann die Behandlung beendet werden, manchmal vielleicht gegen die Unterschrift der Eltern, dass sie über die möglichen negativen Konsequenzen (chronischer Verlauf, Verschlechterung…) aufgeklärt wurden und selbst gegen den Rat der Ärzte die Verantwortung übernehmen.

Fazit

Insgesamt können wir festhalten, dass die Behandlung von Essstörungen (Magersucht, Bulimie) gleichermaßen nötig wie erfolgversprechend ist. Ohne Therapie sind die Chancen auf ein Verschwinden der Essstörung relativ gering und es droht eine Chronifizierung mit Folgeerkrankungen. Mit Therapie – wenn sie fachkundig durchgeführt wird und ausreichend lange dauert – kann die Symptomatik in sehr vielen Fällen stark reduziert oder ganz beseitigt werden. Das stellt für viele Patientinnen einen großen Gewinn an Lebensqualität dar, das Selbstwertgefühl steigt, man ist sich seines Wertes wieder bewusst: Glücklichsein, ohne dünn sein zu müssen – Keine Illusion, sondern erreichbare Wirklichkeit.

Legasthenie

Was ist Legasthenie?

Lese- und Rechtschreibstörung bedeutet, daß bei einem Kind die Fähigkeit des Lesens und/oder des Rechtschreibens stark beeinträchtigt ist. Das Kind liest stockend und langsam, versteht oft den Sinn des Gelesenen nicht und macht übermäßig viele Rechtschreibfehler. Ob das nun einfach „nicht gut“ ist, oder tatsächlich eine Legasthenie, kann nur eine testpsychologische Überprüfung zeigen.

Wie wird das Vorliegen einer Legasthenie untersucht?

Im Erstgespräch in unserer Praxis berichten Sie und Ihr Kind von den bisherigen Auffälligkeiten. Auch Schulhefte und Schulzeugnisse werden dabei angesehen. Gleichzeitig ist das Erstgespräch wichtig, um das eventuelle Vorliegen anderer Störungen (ADS, emotionale Störungen) ausschließen oder mituntersuchen zu können.

In der dann anschließenden, an anderen Terminen stattfindenden testpsychologischen Untersuchung wird ein ausführlicher Intelligenztest und natürlich ein Leseund Rechtschreibtest durchgeführt.

Der Intelligenztest ist wichtig, um einerseits auszuschließen, daß die Schulleistungen des Kindes durch Abweichungen in diesem Bereich verursacht sein können. Andererseits ist der Intelligenzquotient eine wichtige Bezugsgröße: nur, wenn er normal ist und die Lese- und Rechtschreibleistungen erheblich darunter liegen, spricht man von Legasthenie. Ob das bei Ihrem Kind der Fall ist, erfahren Sie nach der Testung in einem Ergebnisgespräch.

Welche Konsequenzen hat es, wenn eine Legasthenie festgestellt wurde?

1. Wer eine Legasthenie hat, liest langsamer oder fehlerhafter als andere und macht mehr Rechtschreibfehler, ohne etwas „dafür zu können“ und ohne es „jetzt mal endlich ändern“ zu können. Man nennt es eine Teilleistungsstörung, und für die Schule gibt es die Regel des Nachteilsausgleichs: das bedeutet, dass Ihr Kind durch die Legasthenie keinen Nachteil haben darf. Der Facharzt stellt Ihnen dafür ein Attest aus, das Sie bei der zuständigen Schulpsychologin abgeben. Nach Genehmigung werden dann zum Beispiel die Rechtschreibleistungen Ihres Kindes nicht mehr notenmäßig bewertet („Notenschutz“), und für schriftliche Arbeiten kann es eine Zeitzugabe erhalten, oder die Aufgaben werden ihm vom Lehrer eigens vorgelesen.

Über den Notenschutz gibt es eine Bemerkung im Schulzeugnis, die anderen Maßnahmen im Sinne eines Nachteilsausgleichs werden nicht im Zeugnis vermerkt.

Diese Regelungen stellen für die Schullaufbahn keinen Nachteil dar, im Gegenteil: Die Noten im Fach Deutsch werden oft besser, und auch der Übertritt auf eine weiterführende Schule wird dadurch nicht verhindert, sondern vielleicht erst ermöglicht, ebenso das erfolgreiche Bestehen von Abschlussprüfungen.

Verzeichnis der zuständigen Ansprechpartner in Mittelfranken

Wenn Ihr Kind bereits bei einer Schulpsychologin oder Beratungslehrerin getestet wurde und Ihnen die Vorstellung bei uns empfohlen wurde, um auch eine Förderung (siehe unten Punkt 2) zu beantragen, empfehlen wir folgendes Vorgehen:

  • Melden Sie Ihr Kind über das Anmelde-Formular auf dieser Webseite an.
    Schreiben Sie in die Anmeldung auch, dass Ihr Kind schon in der Schule getestet wurde und nennen Sie Namen der zuständigen Beratungslehrkraft und den Namen der Schule.
  • Bitten Sie dann die Beratungslehrkraft, die Ihr Kind getestet hat, uns per Email die Testergebnisse Ihres Kindes zu schicken. Wir können sie dann nach Eintreffen schnell zuordnen.
  • Sobald wir alle Vor-Testergebnisse haben, können wir uns bei Ihnen melden und Ihnen Termine zur Untersuchung bei uns vorschlagen.

2. Damit die Lese- und Rechtschreibleistungen sich bessern, ist eine professionelle Therapie bei einem Legasthenie-Therapeuten nötig.

Das verbesserte simultane Erfassen von geschriebenen Buchstaben und Zuordnung zu einer Lautfolge, das verbesserte Hören von Wortanteilen („Phoneme“) in gesprochener Sprache, und auch das genauere und bewusstere Anwenden von Rechtschreibregeln und -Strategien werden geübt. Aber auch die Bewältigung der Situation, das „Leben mit einem Problem“, sind Teil der Therapie.

Da Legasthenie keine „Krankheit“ ist, übernehmen die Krankenkassen hierfür nicht die Kosten. Sie müssen privat bezahlt werden. In einigen Fällen, wo das betroffene Kind durch die Störung emotional schwer beeinträchtigt ist und in seiner sozialen Integration zu scheitern droht, können – nach Vorlage eines Attests vom Facharzt – die Jugendämter die Kosten übernehmen.

Verzeichnis der Jugendämter in Bayern

Rechenstörung

Was ist Dyskalkulie?

Rechenstörung umfasst Schwächen in den Grundrechenarten Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division. Weniger relevant sind die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie sowie Differenzial- und Integralrechnung benötigt werden.

Es können in folgenden Bereichen Schwierigkeiten bestehen:

  • Zahlensemantik: Rechenoperationen und die ihnen zugrunde liegenden Konzepte werden nicht ausreichend verstanden (z.B. mehr-weniger, ein Vielfaches, Teil-Ganzes), die Größe einer Menge kann unzureichend erfasst und zu einer anderen Menge in Beziehung gesetzt werden (vergleichen), schließlich ist der Aufbau gegliederter Zahlenstrahl- oder Zahlenraumvorstellungen und damit die Fähigkeit des Überschlagens und Schätzens von Mengen und Rechenergebnissen erschwert.
  • Sprachliche Zahlenverarbeitung wie Erwerb der Zahlwortsequenz und der Zählfertigkeiten sowie Speichern von Faktenwissen (Einmaleins)
  • Erwerb des arabischen Stellenwertsystems und seiner syntaktischen Regeln sowie der hierauf aufbauenden Rechenprozeduren
  • Übertragen von Zahlen aus einer Kodierung in eine andere (Zahlwort – arabische Ziffer – analoge Mengenrepräsentation).

Auffällig sind oft deutlich schlechtere Noten in Mathematik als in anderen Fächern. Trotz langen und vielfachen Übens kann sich der betroffene Schüler die Rechenwege oder Größenverhältnisse nicht merken oder braucht auffällig lange Zeit dazu.

Wie wird das Vorliegen einer Dyskalkulie untersucht?

Im Erstgespräch in unserer Praxis berichten Sie und Ihr Kind von den bisherigen Auffälligkeiten. Auch Schulhefte und Schulzeugnisse werden dabei angesehen. Gleichzeitig ist das Erstgespräch wichtig, um das eventuelle Vorliegen anderer Störungen (ADS, emotionale Störungen) ausschließen oder mituntersuchen zu können.

In der dann anschließenden, an anderen Terminen stattfindenden testpsychologischen Untersuchung wird ein ausführlicher Intelligenztest und natürlich ein Rechentest durchgeführt.

Der Intelligenztest ist wichtig, um einerseits auszuschließen, daß die Schulleistungen des Kindes durch Abweichungen in diesem Bereich verursacht sein können. Andererseits ist der Intelligenzquotient eine wichtige Bezugsgröße: nur, wenn er normal ist und die Rechenleistungen erheblich darunter liegen, spricht man von Dyskalkulie. Ob das bei Ihrem Kind der Fall ist, erfahren Sie nach der Testung in einem Ergebnisgespräch.

In einigen Fällen erfüllen die Rechenwerte nicht die strengeren Kriterien der Dyskalkulie (Rechenstörung), sind aber dennoch leicht unterdurchschnittlich: in diesem Fall spricht man von Rechenschwäche.

Welche Konsequenzen hat es, wenn eine Dyskalkulie festgestellt wurde?

1. Anders als bei der Legasthenie (Lese- und Rechtschreibstörung) gibt es bei der Dyskalkulie für die Schule keine klaren Richtlinien, welche Art von Nachteilsausgleich das Kind erhalten soll. Die Maßnahmen der Schule liegen weitgehend im Rahmen des „pädagogischen Ermessens“ und bedeuten, dass die Lehrkraft in Absprache mit Schulleitung und den Eltern eine Auswahl an folgenden Maßnahmen einsetzt:

  • Individuelle Differenzierung (dem Kind leichtere Aufgaben zur Verfügung zu stellen, so dass es nach und nach wieder Anschluss bekommt), Nutzen der Förderangebote der evtl. vorhandenen Förderlehrerin oder Einsatz des MSD (Mobiler Sonderpädagogischer Dienst).
  • Zeitzugabe: In der Grundschule lassen viele Lehrkräfte die Schüler die Probearbeiten immer (auch nach Ende der offiziellen Arbeitszeit) zu Ende schreiben (in der 4. Klasse, wenn es um Übertritt geht, ist dies dann schon kritischer), so dass dann SchülerInnen mit Dyskalkulie – wie die anderen Kinder auch – genügend Zeit zur Bearbeitung der Aufgaben zur Verfügung haben.
  • Zeitweilige Notenaussetzung, wenn z.B. während dieser Zeit eine Dyskalkulietherapie stattfindet und das Kind gerade in dieser sensiblen Zeit nicht durch schlechte Noten in Mathematikproben kontraproduktiv zur Therapie frustriert werden soll. Im Zeugnis würde dann der Vermerk stehen, dass in Mathematik zeitweilig auf eine Bewertung der Leistungen aus pädagogischen Gründen verzichtet wurde. Ob dann das Kind die Proben der Mitschüler schreibt oder entsprechend seines Leistungsstandes und evtl. individueller Lernaufgaben muss im Einzelfall geklärt werden.
    Falls das Kind die „normalen“ Proben mitschreibt, könnten diese unbenotet an das Kind gehen, die Lin schreibt sich aber Noten auf, so dass der Lernprozess und Entwicklungsprozess nachvollzogen werden kann (auch als Rückmeldung für die Eltern und für das Zeugnis)

Verzeichnis der zuständigen Schulpsychologen in Bayern

2. Damit die Rechenleistungen sich bessern, ist eine professionelle Therapie bei einem Dyskalkulie-Therapeuten nötig.

Da Dyskalkulie keine „Krankheit“ ist, übernehmen die Krankenkassen hierfür nicht die Kosten. Sie müssen privat bezahlt werden. In einigen Fällen, wo das betroffene Kind durch die Störung emotional schwer beeinträchtigt ist und in seiner sozialen Integration zu scheitern droht, können – nach Vorlage eines Attests vom Facharzt – die Jugendämter die Kosten übernehmen.

 

Verzeichnis der Jugendämter in Mittelfranken

Verzeichnis der Jugendämter in Oberfranken

Verzeichnis der Jugendämter in Unterfranken

Hochbegabung

Zwar keine Störung, aber oft ein Grund für eine fachärztliche Abklärung ist der Verdacht auf Hochbegabung.

Im engeren Sinn spricht man von Hochbegabung, wenn jemand einen Intelligenzquotienten (IQ) von >130 hat. Im weiteren Sinn sind auch besondere Begabungen in Teilbereichen (Mathematik, Musik, Sport) darunter zu verstehen. Häufiger Vorstellungsanlass in unserer Praxis sind damit verbundene Schulleistungsstörungen (ein Kind kann unkonzentriert wirken oder schlechte Leistungen erzielen, weil es sich „langweilt“) oder emotionale Störungen (weil Kinder mit überdurchschnittlicher Intelligenz sich oft als „anders“ empfinden, von anderen so gesehen werden und darunter leiden).

 


 

Ist mein Kind hochbegabt?

Vielleicht ist Ihnen selbst aufgefallen, daß Ihr Kind neue Dinge schneller und einfacher lernt als andere, daß es sich für mehr interessiert als andere, schon vor der Einschulung liest und schreibt, gut rechnet.

Vielleicht haben auch Erzieher oder Lehrer Sie darauf angesprochen, daß Ihr Kind diese Auffälligkeiten zeigt, in der Schule sehr gute Leistungen zeigt und Ihnen sogar geraten, der Frage „Hochbegabt?“ nachzugehen.

Vielleicht ist Ihr Kind aber besonders „schwierig“, will immer seinen Kopf durchsetzen, ist in der Schule überhaupt nicht gut, hat aber trotzdem einige der genannten Anzeichen für besondere Begabung.

Wie auch immer Sie auf den Gedanken kommen: Hochbegabung ist nicht nur einfach ein überdurschnittlich hoher Intelligenzquotient (IQ), und nicht alle Kinder mit sehr guten Schulnoten sind hochbegabt, und erst recht nicht alle Kinder mit „schwierigem“ Verhalten sind hochbegabt.

Die Feststellung einer Hochbegabung ist nur im Zusammenwirken mehrerer Personen möglich: Sie als Eltern müssen gut beobachten (siehe Anzeichen), es sollte ein Intelligenztest durch einen Experten durchgeführt werden, der aber auch von einer ausführlichen Erfassung der Vorgeschichte (Anamnese) begleitet sein muss, es müssen Erzieher oder Lehrer befragt werden. Das Ergebnis sollte dann ein möglichst umfassendes Bild von den Stärken und Schwächen des Kindes sein, damit ein individueller Förderplan erstellt werden kann.

 


 

Anzeichen für eine mögliche Hochbegabung kann sein:

Persönlichkeit

Ehrgeizig und zielstrebig
Interessiert sich für viele Themen (und Fächer)
Ärger und Mißerfolge entmutigen das Kind nicht
Selbstbewußt, traut sich, seine Meinung zu sagen
Kann sich gut konzentrieren und lange dabei bleiben

Sozialverhalten

Hilfsbereit
Kann gut in Gruppe arbeiten
Kann sich in Gruppe durchsetzen
Kann sich in Gruppe leicht einordnen
Geht gern in die Schule, weil es gern mit anderen zusammen ist

Theoretische Begabung

Versteht neuen Lernstoff schnell
Kommt gut mit mathematischen Formeln und Begriffen klar
Kann sich gut ausdrücken
Kann Gelerntes gut auf andere Themen anwenden
Liest und versteht neue Texte schnell

Praktische Begabung

Arbeitet geschickt mit seinen Händen
Praktisches Arbeiten macht ihm Freude
Kann in Werken/Hauswirtschaft/Kunst sehr genau arbeiten
Hat bei praktischen Arbeiten viel Fantasie und gute Ideen
Kann ausdauernd an einem Werkstück/Zeichnung arbeiten

Arbeitsweise

Arbeitet sehr sorgfältig
Arbeitet meistens selbständig und braucht kaum Hilfe
Kann rasch und zügig arbeiten
Kann gut länger an einer Arbeit bleiben
Macht seine Hausaufgaben sehr zuverlässig

 


 

Hochbegabung kann in der Regel durch drei Stellen festgestellt werden:

1. Schulpsychologen und Beratungslehrer
2. Kinder- und Jugendpsychiater
3. Niedergelassene Psychologen, Beratungsstellen

Wann gehe ich zu wem?

1. Wenn im Vordergrund der Fragestellung die Schulleistung des Kindes steht, weil es besonders gut ist, mehr Lernstoff möchte und z.B. „unterfordert“ ist, sind Schulpsychologen und Beratungslehrer zuständig. Auch, wenn das Kind aufgrund der Unterforderung zu schwache Leistungen erbringt, ist das Kind bei diesen Ansprechpartnern richtig. Hier ist viel Fachwissen gefragt, um die verschiedenen Leistungsprofile unterscheiden zu können.

2. Wenn das Kind verhaltensauffällig ist oder in der Schule deutlich schlechter geworden ist, kann ein Kinder- und Jugendpsychiater der richtige Ansprechpartner sein. Es gibt viele verschiedene Gründe für diese Probleme, die nur durch eine kompetente und ausführliche Untersuchung (zu mehreren Terminen) unterschieden werden können: Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS), Depression, Lese- und Rechtschreibstörung, Mißbrauch und Mißhandlung, andere seelische oder psychische Störungen oder eben auch die Hochbegabung. Oder – das macht es noch komplizierter – eine Kombination aus einigen dieser Felder. Deshalb führt der Kinderpsychiater ausführliche Gespräche mit Ihnen und Ihrem Kind, gibt Ihnen Fragebögen, führt Tests (Intelligenz, Lesen, Schreiben, Rechnen, Motorik) durch, untersucht auch körperlich und stellt dann eine Diagnose. Wenn ein hochbegabtes Mädchen eine Magersucht hat, ist diese nicht Folge der Hochbegabung, sondern eine schwere psychische und körperliche Störung, die unbedingt behandelt werden muss. Auch ein hochbegabtes Kind mit ADS benötigt eine fachgerechte Beurteilung und Behandlung, weil es seine Begabung sonst aufgrund der beeinträchtigten Aufmerksamkeit oder der Hyperaktivität gar nicht nutzen kann.

3. Aus den genannten Gründen können Sie sich auch an niedergelassene Diplom-Psychologen oder Beratungsstellen wenden. Sie werden ähnliche Untersuchungen (außer der körperlichen Untersuchung) durchführen und ähnliche Ergebnisse erzielen. Wichtig ist in jedem Fall, dass alle genannten Faktoren berücksichtigt und untersucht werden.

Die alleinige Durchführung eines IQ-Tests ist zur Feststellung einer Hochbegabung nicht geeignet. Genausowenig ist die alleinige Mitteilung einer IQ-Zahl als Beratung für die Familie eines hochbegabten Kindes ausreichend.


 

Hochbegabt – und wie geht es weiter?

Ein hochbegabtes Kind benötigt – falls nicht ohnehin alles unproblematisch läuft – idealerweise eine Art  „Förderplan“, in dem man gemeinsam bespricht, welche Maßnahmen geeignet sind, um dem Kind gut weiterhelfen zu können. Im Mittelpunkt darf dabei nicht stehen, was man tun kann, um das Kind noch weiter zu „pushen“, sondern was nötig und möglich ist, damit das Kind glücklich sein kann. Vielleicht sind dazu ja auch überhaupt keine besonderen Maßnahmen nötig, weil das Kind sich selbst gut organisiert hat, in der Familie gut eingebunden und unterstützt ist und seelisch ausgeglichen ist.

Es gibt drei grundsätzliche Möglichkeiten zur Hochbegabtenförderung:

1. Anreicherung
2. Beschleunigung
3. Gruppierung

In manchen Fällen werden Verhaltensauffälligkeiten (z.B. Stören in der Schule) schon durch sinnvollen Einsatz einer oder mehrerer dieser drei Möglichkeiten reduziert, weil das Kind nun seinem Leistungsniveau gemäß gefördert werden kann.

1. Anreicherung: Hochbegabte Kinder benötigen oft mehr „Stoff“ als andere Kinder, um ausgelastet zu sein. An Grundschulen haben die Lehrer oft die Möglichkeit, innerhalb des Unterrichts besondere Inhalte für einzelne Kinder anzubieten. An Gymnasien gibt es z.B. sogenannte „Plus-Kurse“, in denen dafür geeigneten Schülern außerhalb des regulären Unterrichts besondere Inhalte angeboten werden. In Erlangen wird dies durch den Schulpsychologen des Ohm-Gymnasiums, Herrn Zerpies, organisiert.

2. Beschleunigung: Hochbegabte Kinder sind dem Lernstoff ihrer Altersgenossen oft so weit voraus, daß es sich für sie lohnt, eine Klasse zu überspringen. Hier reicht ein hoher IQ-Wert als Kriterium aber keinesfalls aus, sondern es bedarf der genauen Einschätzung durch den zuständigen Schulpsychologen, ob neben dem IQ auch der Wissensstand, die Leistungsbereitschaft und die Motivation genügend groß sind. Es gibt auch viele hochbegabte Kinder, die nie eine Klasse überspringen, aber immer zu den „guten“ gehören und dabei sehr zufrieden sind.

3. Gruppierung: Die Erfahrung zeigt, daß hochbegabte Kinder davon profitieren, wenn sie (zumindest zeitweise) in einer Gruppe ähnlich begabter Kinder sind. Die Erlanger „Plus-Kurse“ sind ein Beispiel für diese Gruppierung. Es gibt in Nürnberg (Dürer-Gymnasium) und demnächst auch in Erlangen (Ohm-Gymnasium) Spezialklassen für hochbegabte Schüler. Manche Eltern schicken ihr Kind auch auf Spezial-Internate für Hochbegabte, von denen es aber nicht viele gibt und deren Bedeutung man durchaus kritisch sehen darf.

ADHS: Diagnostik und Behandlung

Was ist ADHS?

Die Abkürzung ADHS steht für „Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom“. Kennzeichnend für Kinder mit dieser Störung ist, daß sie

  • Sich schlecht konzentrieren können, nur kurze Zeit aufmerksam einer Sache folgen (vor allem in komplexeren Situationen wie der Schule, oder bei schwierigeren Aufgaben wie den Hausaufgaben)
  • Leicht ablenkbar sind und deshalb Arbeiten nicht in derselben Zeit fertigstellen wie andere Kinder (Klassenarbeiten werden nicht geschafft, Hausaufgaben dauern lange)
  • oft (aber nicht immer) einen sehr hohen Bewegungsdrang haben, zappeln, wackeln, sogar in unpassenden Momenten aufstehen
  • oft (aber nicht immer) impulsiv sind, nicht warten können, immer alles SOFORT haben müssen und übermäßig viel reden

Für manche Kinder und Jugendliche treffen die Kriterien der Hyperaktivität, also des hohen Bewegungsdranges, und der Impulsivität, nicht zu – hier verwendet man die Abkürzung „ADS“. In letzter Zeit ist es mehr und mehr üblich, für ALLE Störungen dieser Art die Abkürzung ADS zu verwenden, zur Unterscheidung kann man dann sagen „ADS ohne Hyperaktivität“ oder „ADS mit Hyperaktivität“.

ADHS ist eine biologisch begründete Erkrankung. Ursache sind Störungen der Neurotransmitter, also der chemischen Botenstoffe, mit denen unsere Gehirnzellen kommunizieren, vor allem Dopamin und Noradrenalin. Wir wissen heute, dass 75% der Ursache für ADHS in unseren Genen liegt, also keineswegs Folge einer „schlechten Erziehung“ ist, und natürlich erst recht keine „Erfindung der Pharmaindustrie“, wie die Medien das oft unreflektiert darstellen.


Wie wird ADHS diagnostiziert?

Zur Diagnose von ADS gibt es leider keinen „Test“, sondern der Arzt macht sich ein ausführliches Bild aus den Schilderungen der Eltern und der Untersuchung des Kindes. Er gibt Fragebögen an Eltern, Lehrer und ggf. Therapeuten (Ergotherapie, Logopädie, falls vorhanden) aus, in denen der Ausprägungsgrad der Störung eingeschätzt werden soll. Er sieht alle Schulzeugnisse durch, da in den ersten Textabschnitten die ADS-Symptome aus Sicht der Lehrer immer genau beurteilt werden. Er liest die ggf. vorhandenen Therapieberichte (z.B. Ergotherapie, wo oft auch gezielt auf Konzentration geachtet wird). Auch wird immer eine Testuntersuchung der Intelligenz und der Teilleistungen (Lesen, Schreiben, Rechnen – falls nötig) vorgenommen, um isolierte Defizite in diesen Bereichen auszuschließen.

Die Diagnose entsteht dann aus einer Gesamteinschätzung aller verfügbaren Informationen. Dabei müssen drei Merkmale beachtet werden:

  1. Die Störung besteht meist schon seit dem Kindergarten, ist aber in jedem Fall nicht erst „plötzlich“ aufgetreten. ADS „kriegt“ man nicht.
  2. Die Störung tritt meist in mehreren Lebensbereichen auf (Schule, Familie, Freundeskreis). ADS liegt also nicht nur im Kontakt des Kindes z.B. zu einer Lehrerin, sonst aber bei niemand anderem vor.
  3. Die Symptome führen zu einer Beeinträchtigung des Kindes: in der Schule kann es nicht die Leistungen erbringen, zu denen es eigentlich imstande wäre; in der Familie gibt es immer wieder Reibereien und „Genervtheit“, die das Familienklima beeinträchtigen; im Freundeskreis kommt es oft zu Streitereien und Ausgeschlossenwerden

Wichtig ist, daß all diese Dinge nicht bei allen Kindern genau gleich vorkommen. Deshalb ist eine ausführliche ärztliche Untersuchung ausgesprochen wichtig. Eltern haben manchmal den „Verdacht auf ein ADS“, kennen aus dem Bekanntenkreis aber Kinder, die „das auch haben und viel schlimmer sind“, und folgern daraus, dass das bei ihrem Kind also nicht vorliegen kann. So stimmt es aber nicht – besonders der dritte genannte Punkt (die Beeinträchtigung) – muss für jedes Kind individuell überprüft werden.


Wie wird ADHS behandelt?

Für die Behandlung von ADS gibt es im Wesentlichen drei Therapiebausteine, wir nennen das eine multimodale Behandlung:

  1. Training der Eltern: Besonders die Eltern eines ADS-betroffenen Kindes müssen lernen, ihr Kind in den Herausforderungen der Störung zu unterstützen: Hilfe beim Strukturieren geben (ohne die Arbeit abzunehmen), klare, einfache Anweisungen geben, das Kind motivieren und ggf. mit Hilfe von Belohnungssystemen und Punkteplänen schrittweise daran arbeiten, daß erwünschtes Verhalten (z.B. sorgfältig und zügig arbeiten) verstärkt wird. In unserer Praxis werden Eltern in Gruppen und bei Bedarf auch einzeln darin geschult, diese Methoden anzuwenden.
  2. Training mit dem Kind: Das Kind muss lernen, sich länger zu konzentrieren und sich dabei besser zu strukturieren: Übersicht über die Aufgabe gewinnen und sie Schritt für Schritt abarbeiten, am Ende das Ergebnis kontrollieren. Ein solches Training kann in spezialisierten Ergotherapie-Praxen durchgeführt werden.
  3. Medikamentöse Behandlung: Die medikamentöse Behandlung des ADS wird meist zu Unrecht negativ gesehen. Viele Kinder kommen mit den genannten Punkten 1 und 2 gut aus und benötigen keine Medikation, tatsächlich werden nach aktuellen Statistiken weniger als die Hälfte aller ADHS-diagnostizierten Patienten in Deutschland medikamentös behandelt. Wenn aber die nicht-medikamentösen Behandlungen über ein halbes Jahr ohne nennenswerten Erfolg verlaufen oder schon gravierende Folgen des problematischen Verhaltens drohen (z.B., weil ein Kind aus der Schule verwiesen werden soll), ist eine Medikation ein sinnvoller und in den meisten Fällen auch sehr wirksamer Therapiebaustein. Grund dafür, dass wir eine Störung der Aufmerksamkeit und des Verhaltens überhaupt medikamentös behandeln können ist, dass die Ursache für die gesamte ADHS-Problematik in einem Stoffwechselungleichgewicht des Gehirns liegt. Die körpereigenen Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin sind an bestimmten Kontaktstellen (Synapsen) des Nervensystems in zu geringer Menge vorhanden und können durch ein geeignetes Medikament auf ein normales Niveau gehoben werden. Das ist keine Vermutung, sondern seit vielen Jahrzehnten in hunderten von wissenschaftlichen Studien weltweit belegt worden. Tatsächlich ist von allen Therapiemöglichkeiten die medikamentöse Therapie die mit Abstand wirksamste.Dabei wird, beginnend mit sehr geringen Dosierungen, beobachtet, wann bei einem Kind eine Wirkung auftritt, möglichst ohne dass Nebenwirkungen feststellbar sind. Im optimalen Fall kann sich ein Kind nach erfolgter Einstellung über den Schulvormittag hinweg und auch bei den Hausaufgaben konzentrieren, sein Leistungspotential endlich ausschöpfen, ausreichend lange zuhören, seine Hyperaktivität und Impulsivität auf ein normales Maß reduzieren und somit ein entspanntes und zufriedenes Leben leben.Bei der Mehrheit der Kinder tritt diese Folge auch genau ein. Falls eine ausreichende Wirkung ausbleibt oder die Nebenwirkungen (z.B. Appetitminderung, Schlafstörungen) überwiegen, ist die Behandlung für das Kind nicht gut geeignet und muss selbstverständlich geändert werden. Auch deshalb sollte die Behandlung ausschließlich durch einen Facharzt erfolgen, damit durch häufige Kontrollen sichergestellt werden kann, dass das Kind von der Behandlung auch wirklich profitiert.

Irrtümer über die Behandlung mit Methylphenidat:

Es ist falsch, dass Kinder durch die Behandlung „nur ruhiggestellt“ werden sollen. Vielmehr soll ihre störungsbedingt hohe Ablenkbarkeit und Hyperaktivität auf ein normales Maß gebracht werden, damit sie ihre Möglichkeiten ausschöpfen können wie alle gesunden Kinder. (Das ist vergleichbar mit der Behandlung eines Diabetikers mit Insulin.)

Es ist falsch, dass die Behandlung mit Methylphenidat abhängig macht. Das Medikament wird zwar über Sonderrezepte nach dem Betäubungsmittelgesetz verordnet, man kann die Behandlung aber jederzeit ohne Folgen absetzen. Bei einer Abhängigkeit würde das nicht gehen, im Gegenteil: die Dosis müsste immer weiter gesteigert werden. Bei Methylphenidat wird die wirksame Dosis beibehalten und allenfalls dem höheren Alter oder steigenden Körpergewicht des Kindes angepasst.

Aus der Forschung ist sogar bekannt, dass Jugendliche mit unbehandeltem ADHS ein höheres Abhängigkeitsrisiko von illegalen Drogen haben als andere, weil sie sich selbst eine Art Beruhigung suchen. Behandelte Patienten haben dasselbe Suchtrisiko wie jeder andere Mensch.Wichtig zu wissen ist auch, dass ein notwendige, aber nicht durchgeführte Behandlung natürlich schwerwiegende soziale Folgen (schulisches und soziales Scheitern) für ein Kind haben kann und man deshalb sorgfältig abwägen muss.

Alternativen zu Methylphenidat (Ritalin, Medikinet, Equasym, Concerta, Kinecteen):

Seit einigen Jahren gibt es eine weitere Substanz in der ADHS-Therapie. Der Wirkstoff heisst Atomoxetin, der ursprüngliche Handelsname ist Strattera. Die Kapseln werden einmal täglich eingenommen und erst jeweils nach 1-2 Wochen auf die nächsthöhere Dosis gesteigert. Die Wirkung tritt langsam ein und ist oft erst nach 6 Wochen zu beobachten. Eingesetzt wird Strattera bei Patienten, bei denen außer der Schulsituation auch die Morgen- und Abendsituation zu Hause und das Sozialverhalten deutlich beeinträchtigt sind, oder bei Kindern, die auf Methlyphenidat mit zu starken Nebenwirkungen, ausbleibender Wirkung oder starken Rebound-Phänomenen (massivere Verhaltensauffälligkeiten nach Wirkende am Nachmittag) reagiert haben. Eine ähnliches Wirkspektrum hat der seit 2016 in Deutschland erhältliche Wirkstoff Guanfacin, Handelsname Intuniv.
Seit 2013 ist in Deutschland auch eine Variante der Methylphenidat-Therapie erhältlich: Der Wirkstoff heißt Lisdexamphetamin, der Handelsname ist Elvanse. Das Präparat zeigt eine ausgesprochen gute Wirksamkeit über lange Strecken des Tages, die Verträglichkeit ist ähnlich der von Methylphenidat. Die kurzwirksame Variante dieses Wirkstoffes ist unter dem Namen Attentin erhältlich.