Selbstverletzendes Verhalten

Viele Jugendliche leiden unter einer mangelnden Zukunftsperspektive. Andere kommen mit Fragen an das Leben, finden aber keine zufriedenstellenden Antworten. Aus verschiedenen Gründen, z.B. mangelhaft gelernte Regulation der Emotionen, unsichere Persönlichkeiten aufgrund unsicherer Bindungen zu den Eltern und auch biologischen Voraussetzungen wie Reaktionsbereitschaft auf Stress haben viele Jugendliche, vor allem Mädchen, erhebliche Probleme, einander widersprechende Gefühlsregungen gleichzeitig zu erleben. Wenn es vorher schlimm war, kann es jetzt nicht schön sein. Was vorher schön war, ist jetzt ausgelöscht, wenn es jetzt schlimm ist. Die Jugendlichen leiden an dem teilweise völligen Fehlen eines Handlungskatalogs, es sind keine Optionen vorhanden, sie haben keine Vokabeln, um in Worten zu beschreiben, wie sie sich fühlen, sie haben ohnehin oft niemanden, dem sie diese Worte mitteilen könnten, weil niemand diese Widersprüchlichkeit versteht, auch die eigenen Freunde nicht, die entweder ebenso an der Widersprüchlichkeit und den mangelnden Antworten leiden, oder die sich entsetzt abwenden. In den Familien wurde über Gefühle nicht gesprochen, oder zuviel und in zu belastender Weise gesprochen. Es fehlen Werkzeuge für den Umgang mit Stress, es fehlen Techniken zur Differenzierung, Verbesserung des Augenblicks, Ablenkung.

Was aus all dem entsteht, ist ein Zustand extremer innerer Anspannung. Er kann so stark sein, daß das Denken sich einengt, das Fühlen sich nur noch auf die Spannung konzentriert, der Körper sich von der Seele zu trennen scheint, indem einzelne Hautpartien oder Gliedmaßen nicht mehr richtig zu spüren sind. Hilfreich für das Verständnis sind Befunde aus der Neurobiologie: ein erhöhter Spiegel des Stresshormons Cortisol beeinträchtigt die Speicherung der spezifischen Eindrücke im Hippocampus, dem Gehirnareal, das auch in verbaler, konkreter Form Erinnerungen speichert. Stattdessen werden Eindrücke in der Amygdala gespeichert, die für das procedurale, nonverbale Erinnern zuständig ist. Wenn Patienten also sagen: „ich kann mich nicht erinnern“ oder „ich kann es nicht genau beschreiben, es ist nur ein dumpfes Gefühl“, wird damit genau das beschrieben, was wir neurobiologisch messen können.

Und was nun passieren kann: die Jugendliche greift zur Rasierklinge und schneidet sich in den Unterarm.

Alternativ schneidet sie in andere Körperregionen, mal oberflächlicher, mal tiefer, oft dutzendfach hintereinander, oft mit Nadeln, Nägeln, Scherben oder einfach nur den eigenen Fingernägeln. Es gibt zahllose Varianten, in Mode kommt auch das „Branding“, wo mit Deospray, aus nächster Nähe auf die Haut gesprüht, Erfrierungen erzeugt werden.

 


 

Gründe für selbstverletzendes Verhalten

1. Der naheliegendste Grund, den wir als Außenstehende und mit der Problematik kaum Vertraute oft unterstellen, ist die Suche nach Aufmerksamkeit. „Die will mehr Beachtung“, denken wir uns, was in einigen Fällen auch stimmen kann, und es gilt sicher sorgsam zu fragen, wo sich die Betroffene denn unbeachtet fühlt und wie man ihr besser entgegenkommen kann. Manche Patienten benutzen dieses Verhalten auch im Rahmen stationärer Aufenthalte zur Kommunikation ihres schlechten Befindens. Es gibt Spezialkliniken für Persönlichkeitsstörungen bei Erwachsenen, die den Patientinnen mit chronisch selbstverletzendem Verhalten das Päckchen mit Desinfektionsmittel und Pflaster in solchen Fällen einfach in die Hand drücken und sie eher in Ruhe lassen, als sie in genau diesem Moment auch noch zu umsorgen, um das Verhalten eben nicht zu verstärken. Die meisten Jugendlichen mit selbstverletzendem Verhalten tun das aber gerade nicht, um beachtet zu werden. Sie tun es heimlich. Sie tun es, wenn sie keiner sieht, und sie verdecken die Wunden und Narben, die entstehen. Vielen ist es sogar ausgesprochen peinlich, wenn andere ihre Verletzungen sehen und sie tragen selbst im Sommer langärmliche Shirts, damit die Arme bedeckt bleiben.

2. Ein häufiger Grund, den Jugendliche für Selbstverletzung angeben, ist Abbau innerer Anspannung. Die Spannung wird unerträglich und muss irgendwie gelöst werden, und als ob das Verletzen der Hautoberfläche die Spannung reduzieren würde, gleichsam wie das das Eröffnen eines schmerzhaften Furunkels, aus dem endlich der Eiter abfließen kann, wird diese Methode zur Spannungsreduktion benutzt. Eine 14jährige sagte einmal, sie empfinde es so, als ob ihre Gefühle stehengeblieben, eingefroren seien; wenn sie das Blut fließen sehe, dann fließe wenigstens einmal wieder etwas.

Die meisten Jugendlichen berichten über einen Gewinn, den sie für kurze Zeit aus der Selbstverletzung ziehen. Die Spannung wird reduziert, man beruhigt sich wieder ein wenig. Der Effekt hält oft nur einige Momente an, oft einige Stunden oder für den Rest des Tages.

3. Der dritte Grund für selbstverletzendes Verhalten hängt mit dem zweiten eng zusammen: Patientinnen geben an, sie verletzen sich, damit sie „sich mal wieder spüren“. Die einander widersprechenden Gefühle lähmen sich gegenseitig und scheinen sich auszulöschen, die fehlenden Handlungsmöglichkeiten bringen das innere Leben zum Erliegen. Einzig der selbst ausgelöste Schmerz vermag hier offenbar noch einen Reiz zu setzen. Er ist kontrollierbar, beherrschbar, vorhersehbar. Aufgrund der Anspannung und der Einengung des Fühlens nehmen die Patientinnen die Selbstverletzung oft nicht als richtigen Schmerz wahr, viele berichten, es tut eigentlich gar nicht weh, aber es ist überhaupt wieder ein Gefühl.

4. Der vierte Grund ist die absichtliche Selbstbestrafung. Hierbei handelt es sich um eine sehr komplexe Reaktionsweise in der Psychodynamik von persönlichen Beziehungen oder eigener Pathologie. Ursache kann ein Streit in der Familie sein, bei dem die Jugendliche Wut, zum Beispiel gegen die Mutter, empfindet. Die Mutter weist die Angriffe zurück, beschuldigt die Tochter. Die Tochter erlebt ihre Wut gegen die Mutter als schuldhaft, verboten, unmoralisch. Vorwürfe wie „du bringst mich noch ins Grab“ oder „bald brauche ich selbst einen Therapeuten“ seitens der Mutter verbalisieren das noch zusätzlich. Oder die Mutter verbalisiert gerade überhaupt nichts, zieht sich verletzt zurück, lässt alle Vorwürfe unausgesprochen, ist aber unübersehbar tief gekränkt. Oft ziehen sich die jungen Patientinnen dann in ihr Zimmer zurück und greifen zur Rasierklinge. Bestrafung. „Wenn Ihr mich als böse empfindet, dann brauche ich auch meine Strafe“. „Du bist verletzt, und ich bin auch verletzt, jetzt hast Du keinen Grund, noch darüber zu klagen“.

Häufig ist die Selbstverletzung auch im Rahmen komorbider Erkrankungen, z.B. Essstörungen. Die Magersüchtige verletzt sich zur Strafe, wenn sie entgegen ihrem erklärten Willen zu hungern, doch vom Nachtisch probiert hat. Die Bulimikerin verletzt sich, um sich für die Disziplinlosigkeit des letzten Fressanfalls zu bestrafen.

Was dem selbstverletzenden Verhalten, ganz gleich aus welchem der genannten Gründe, gemeinsam ist, ist die Entwicklung eines Suchtcharakters. Das Verhalten bewirkt eine Reduktion der zuerst verspürten Symptomatik und es treten Lerneffekte ein, die auch neurobiologisch begründbar sind – mit jedem Mal wird der Weg noch mehr gebahnt, es auch noch ein weiteres Mal zu tun. Einer der biochemischen Wege, die hier eingeschlagen werden, ist auch die Wirkung der körpereigenen Schmerzmittel, der Endorphine, die bei Hautverletzungen ausgeschüttet werden. Sie reduzieren die Wirkung des Stresshormons Cortisol, das bei den beschriebenen Anspannungszuständen in erhöhtem Maß vorhanden ist. So betrachtet, ist selbstverletzendes Verhalten tatsächlich auch biologisch nachweisbar eine effektive Methode zur Reduktion von innerem Stress, und das ist fatal und muß in der Therapie gut beachtet werden: man kann den Betreffenden weder einen Vorwurf machen, denn ihr Verhalten ist ja in gewisser Weise sinnvoll – „suboptimal“, sagen wir Psychiater auch -, noch kann man sie einfach auffordern, das Verhalten zu unterlassen, da sie ja nicht anders können und sich an die kurzfristig wohltuende Wirkung gewöhnt haben.

 


 

Was passiert in der Therapie selbstverletzenden Verhaltens?

Der therapeutische Weg, den wir einschlagen, bezieht sich auf die beschriebenen Defizite. Die Patienten sollen lernen, wieder mehr Handlungsoptionen zu gewinnen, andere Maßnahmen zur Streßreduktion einsetzen zu können wie Sport, Schreiben, Malen oder zumindest nur kalt Duschen. Sie sollen lernen, Gefühle sehr differenziert (z.B. auf einer Skala von 0-100) wahrzunehmen und mit vielerlei Worten auszudrücken, dabei auch Zwischentöne wahrzunehmen und Dissonanzen auszuhalten. Sie lernen kognitive Techniken wie das In-Frage-Stellen gewohnter Bewertungsweisen, also: „Wenn Person XY mich angrinst, ist das dann unbedingt ein verächtliches Grinsen, das mich herabsetzt? Kann es auch ein freundliches Anlächeln sein? Wie kann ich das überprüfen?“.

 Die Therapie des selbstverletzenden Verhaltens ist langwierig und aufreibend, und sie richtet sich natürlich auch nicht nur auf das Verhalten selbst, sondern auf die zugrundeliegende Problematik. Wichtig für die Patientinnen ist neben der Vermittlung der beschriebenen Fertigkeiten eine gewisse vorbehaltlose und wohlwollende Akzeptanz ihrer Verhaltensweisen. Nicht Verurteilen oder Tadeln, sondern realisieren und gemeinsam nach Lösungswegen suchen.